Das zweite Vaterland
antwortete Zermatt. Für den Fall, daß die Taube morgen früh noch nicht eingetroffen wäre, denke ich, unseren Leichtfuß zu satteln und mich nach der Einsiedelei Eberfurt zu begeben, von wo aus man den Pic, der die Kette überragt, ja sehen kann.
– Recht schön, mein Schatz, sagte Frau Zermatt, doch wozu vorzeitige Beschlüsse? Da jetzt Essenszeit ist, wollen wir zunächst zu Tische gehen. Wer weiß denn, ob dann inzwischen und ehe wir uns niederlegen nicht die Taube mit einigen Worten von Ernst angelangt sein wird.
– Freilich, es ist ja nicht das erstemal, daß wir von Ernst auf gleichem Wege Nachricht erhielten. Du entsinnst Dich wohl, Betsie, wenn’s auch schon lange her ist, daß unsere Söhne uns über Waldegg, Prospect-Hill und Zuckertop Mittheilungen sendeten – leider betrübende; sie betrafen die dort von Affen und anderen schädlichen Thieren angerichteten Verwüstungen – und diese erhielten wir ebenfalls durch Taubenpost. Ich hoffe, der geflügelte Bote bringt uns diesmal bessere!
– Da… da ist er schon! rief Annah, ans Fenster eilend.
– Du hast die Taube anfliegen sehen? fragte ihre Mutter.
– Nein, ich hörte sie nur in den Schlag zurückkehren,« antwortete das junge Mädchen.
Ein kurzes, trockenes Geräusch hatte ihre Aufmerksamkeit erweckt. Das rührte von der kleinen Fallthür her, die den über der Bibliothek angelegten Taubenschlag an dessen unterem Theile abschloß.
Der ältere Zermatt ging sofort hinaus; Annah, Frau Zermatt und Frau Wolston folgten ihm. Vor dem Taubenschlage lehnte er eine Leiter gegen die Felswand, stieg deren Sprossen hinauf und sah in das Taubenhaus hinein.
»Sie ist wirklich da! sagte er.
– O, ergreifen Sie sie… fangen Sie die Taube, Herr Zermatt!« bat Annah voller Ungeduld.
Sobald sie die Taube in Händen hatte, drückte sie ihr einen Kuß auf das bläuliche Köpfchen und streichelte sie nach Ablösung des an einem Fuße befestigten Zettels aufs neue. Dann wurde das Thierchen freigegeben und es flatterte nach seinem Verschlage zurück, wo eine Handvoll Körner seiner wartete.
Annah las Ernsts Mittheilung mit lauter Stimme vor. Die wenigen Zeilen, die das Blatt enthielt, beruhigten alle bezüglich der Abwesenden und meldeten den vollen Erfolg des Ausfluges. Für jeden fand sich ein freundliches Wort darin, und Annah erhielt davon, wie wir wissen, nicht das kärgste Theil.
Mit dem beglückenden Gedanken, daß die Heimkehr in achtundvierzig Stunden erfolgen solle, zogen sich der ältere Zermatt und seine Gattin, sowie Frau Wolston mit ihrer Tochter nach ihren Zimmern zurück. Der eingetroffene Bote hatte die erwünschtesten Nachrichten gebracht… alle dankten Gott dafür und schlummerten dann friedlich bis zum Aufgange der Sonne.
Der Tag wurde nur häuslichen Verrichtungen gewidmet. Natürlich hatte der ältere Zermatt in Folge der Ankunft der Taube seine Absicht, sich nach den Höhen der Schlucht der Cluse zu begeben, fallen lassen. Hätte ein gutes Fernrohr es auch ermöglicht, von dort aus die auf der Spitze des Pics flatternde Fahne zu erkennen, so erfuhr man dadurch doch nichts neues. Es unterlag übrigens keinem Zweifel, daß Wolston, Ernst und Jack jetzt schon auf dem Heimwege begriffen waren.
Am folgenden Tage gab es wieder ein tüchtiges Stück Arbeit, das sich nicht aufschieben ließ. Ein großer Schwarm Lachse war in die Mündung des Schakalbaches eingedrungen. Diese Fische stiegen zur gleichen Jahreszeit stets den Wasserlauf hinaus. Leider vermißte man die drei Abwesenden jetzt recht schmerzlich, denn mit ihrer Unterstützung wäre der Fang der schmackhaften Fische gewiß noch weit reichlicher ausgefallen.
Am Nachmittage ließen Herr und Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah ihre Arbeit ruhen, überschritten die Familienbrücke und machten sich auf den Weg in der Richtung nach der Einsiedelei Eberfurt. Wolston, Ernst und Jack konnten nun den Eingang zur Cluse erreicht haben und binnen zwei Stunden die Entfernung, die die Meierei von Felsenheim trennte, recht wohl überwinden.
Der Tag verging jedoch, ohne daß etwas auf ihre Annäherung hindeutete. Die Hunde, die ihre Herren sicherlich gewittert hätten, schlugen nicht an, auch hörte man keinen Schuß, und Jack hätte seine Rückkehr gewiß mit einem solchen verkündigt.
Um sechs Uhr stand die Mahlzeit bereit – ein reichliches und nahrhaftes Essen, genügend, auch den stärksten Appetit zu befriedigen. Man wartete auf die Ausflügler, doch da diese nicht kamen, fiel es gar
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