Das zweite Zeichen
Wolkenbruch. Irgendetwas fiel ihm aus der Tasche und landete auf dem Grasstreifen.
Nur ein Notizzettel, aber er hob ihn trotzdem auf und steckte ihn im Laufen ein. Der Weg zu der
offen stehenden Tür war voller Risse und durch das viele Unkraut rutschig. Beinah wäre er
hingefallen, doch er erreichte heil die Türschwelle, schüttelte das Wasser von sich und wartete
auf das Empfangskomitee.
Ein Constable steckte stirnrunzelnd den Kopf aus einer Tür.
»Detective Inspector Rebus«, stellte Rebus sich vor.
»Hier rein, Sir.«
»Ich komme sofort.«
Der Kopf verschwand wieder, und Rebus sah sich im Flur um.
Tapetenfetzen, die von den Wänden hingen, waren die einzigen Überreste einer einstigen
Wohnlichkeit. Es roch penetrant nach Moder und nach fauligem Holz. Und alles gab einem das
Gefühl, dass dies eher eine Höhle war als ein Haus, eine primitive Form von Zuflucht,
provisorisch und ungeliebt.
Während er tiefer in das Haus vordrang, vorbei an der kahlen Treppe, wurde es um ihn immer
dunkler. Bretter waren gegen sämtliche Fensterrahmen genagelt worden und ließen kein Licht
herein. Damit hatte man wohl Hausbesetzer abhalten wollen, aber Edinburghs Armee der Obdachlosen
war zu groß und zu gewieft. Sie waren trotz der Hindernisse eingestiegen. Hatten es zu ihrer
Höhle gemacht. Und einer von ihnen war hier gestorben.
Das Zimmer, das er betrat, war überraschend groß, hatte aber eine niedrige Decke. Zwei Constables
hielten schwere gummierte Taschenlampen, um den Tatort zu beleuchten. Schatten bewegten sich über
die dünnen Rigipswände. Sie erzeugten eine Wirkung wie bei einem Gemälde von Caravaggio, ein
helles Zentrum, um das es immer finsterer wurde. Auf dem nackten Dielenboden waren zwei große
Kerzen heruntergebrannt und so zerlaufen, dass sie wie Spiegeleier aussahen. Dazwischen lag die
Leiche, die Beine zusammengepresst, die Arme ausgebreitet. Ein Kreuz ohne Nägel, von der Taille
aufwärts nackt.
Neben der Leiche stand ein Glas, das einst etwas so Harmloses wie Pulverkaffee enthalten hatte,
in dem jetzt jedoch mehrere Einwegspritzen steckten. Kreuzigung mit Schuss, dachte Rebus mit
einem schuldbewussten Lächeln.
Der Polizeiarzt, ein hageres und unglückliches Geschöpf, kniete neben dem Toten, als wolle er ihm
die Letzte Ölung erteilen. Ein Fotograf stand an der gegenüberliegenden Wand und versuchte seinen
Belichtungsmesser abzulesen. Rebus ging zu der Leiche und sah dem Arzt über die Schulter.
»Geben Sie mir mal die Taschenlampe«, sagte er und hielt dem am nächsten stehenden Constable
fordernd die Hand hin. Dann ließ er den Lichtstrahl über den Toten gleiten, angefangen von den
nackten Füßen über die Jeans und den hageren Oberkörper, bei dem sich die Rippen durch die
bleiche Haut abzeichneten. Dann über Hals und Gesicht. Der Mund stand offen, die Augen waren
geschlossen. Auf seiner Stirn und in den Haaren waren offenbar Spuren von getrocknetem Schweiß.
Aber da... War da nicht irgendwas Feuchtes an seinem Mund, auf den Lippen?
Ein Wassertropfen fiel plötzlich aus dem Nichts in den offenen Mund.
Rebus erschrak und wartete darauf, dass der Mann schlucken, sich die ausgetrockneten Lippen
lecken und zum Leben erwachen würde. Nichts passierte.
»Undichte Stelle im Dach«, erklärte der Arzt, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. Rebus
leuchtete mit der Taschenlampe an die Decke und sah den feuchten Fleck, von wo der Tropfen wohl
hergekommen war.
Trotzdem unheimlich.
»Tut mir Leid, dass ich so lange bis hierher gebraucht habe«, sagte er und versuchte, seiner
Stimme nichts anmerken zu lassen. »Also, wie lautet das Urteil?«
»Überdosis«, sagte der Arzt ausdruckslos. »Heroin.« Er hielt Rebus ein kleines Plastiktütchen
hin. »Der Inhalt dieses Briefchens, wenn ich mich nicht täusche. In der rechten Hand hat er noch
ein volles.« Rebus leuchtete auf die leblose Hand, die ein kleines Päckchen mit weißem Pulver
umklammert hielt.
»Na schön«, sagte er. »Ich dachte, heutzutage würden alle Heroin rauchen anstatt zu
spritzen.«
Erst jetzt blickte der Arzt zu ihm auf.
»Das ist aber eine sehr naive Sicht, Inspector. Reden Sie mal mit den Leuten im Krankenhaus. Die
werden Ihnen erzählen, wie viele Fixer wir in Edinburgh haben. Das sind vermutlich Hunderte.
Deshalb sind wir die Aids-Hauptstadt von Großbritannien.«
»Ja, wir sind stolz auf unsere Rekorde, was? Herzkrankheiten, falsche Zähne und jetzt
Aids.«
Der Arzt grinste. »Eines könnte Sie jedoch
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