Daughter of Smoke and Bone
irgendetwas … Solideres?«
»Nicht für dich«, antwortete Nwella. »Wenn man eine Figur hat wie du, sollte man sie nicht verstecken.« Sie flüsterte Chiro etwas zu.
»Hört mit eurem Getuschel auf«, rief Madrigal. »Kann ich nicht wenigstens ein Schultertuch dazu kriegen?«
»Nein«, sagten die beiden anderen wie aus einem Munde.
»Ich komme mir ja fast so nackt vor, als wäre ich in den Bädern.«
Noch nie im Leben hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt wie an diesem Nachmittag, als sie mit Chiro durch den Dampf und das schenkeltiefe Wasser der Bäder ging. Inzwischen wussten alle, dass sie Thiagos Auserwählte war, und jedes Augenpaar im Frauenbad taxierte sie gierig. Am liebsten wäre sie im Wasser versunken, bis man nur noch ihre Hörner sehen konnte.
»Lass Thiago doch anschauen, was er bekommt«, meinte Nwella trocken.
Madrigal erstarrte. »Wer sagt denn, dass er es bekommt?«
Es
, hörte sie sich sagen, und das Wort erschien ihr nicht unpassend – als wäre sie ein unbeseeltes Ding, ein Kleid auf einem Bügel. »Mich«, korrigierte sie sich. »Wer sagt denn, dass er mich bekommt?«
Nwella tat den Gedanken, dass Madrigal den Sohn des Kriegsherrn abweisen könnte, mit einem Lachen ab. »Hier.« Sie trat auf Madrigal zu und gab ihr eine Maske. »Wir erlauben dir, dein Gesicht zu bedecken.« Die Maske hatte die Form eines Vogels mit gespreizten Flügeln und war aus leichtem Kaza-Holz geschnitzt, schwarz, mit dunklen Federn verziert, die sich rund um ihr Gesicht auffächerten und im wechselnden Licht in allen Regenbogenfarben schillerten.
»Ah. Gut. So erkennt mich bestimmt keiner«, bemerkte Madrigal sarkastisch. Ihre Flügel und Hörner ließen sich hinter dieser Maske bestimmt nicht verstecken.
Das Fest des Kriegsherrn war ein Maskenball mit dem Motto »Zeig dich anders, als du bist«. Chimären mit menschlicher Erscheinung trugen Kreaturengesichter, während diejenigen mit Tiererscheinung geschnitzte Menschenbildnissse benutzten, meist ins Karikaturenhafte übersteigert. Es war die einzige Nacht des Jahres, in der es erlaubt war, die gewohnte Identität abzulegen und sich nach Herzenslust zu amüsieren, die einzige Nacht, in der die Regeln des Alltags nicht galten. Für Madrigal jedoch war es in diesem Jahr alles andere als ein ausgelassenes Fest – es war die Nacht, in der sich ihr weiteres Leben entscheiden würde.
Seufzend überließ sie sich ihren beiden Freundinnen, saß still auf ihrem Hocker, während sie ihre Augen mit Kajal umrandeten, ihre Lippen mit Rosenblätterpaste schminkten und ultrafeine Goldkettchen mit winzigen, im Licht funkelnden Kristallen um ihre Hörner drapierten. Chiro und Nwella kicherten, als schmückten sie eine Braut für die Hochzeitsnacht, und plötzlich begriff Madrigal, dass diese Assoziation gar nicht so weit hergeholt war – vielleicht wurde sie nicht direkt für die offizielle Zeremonie zurechtgemacht, aber zumindest war es eine Vorstufe davon.
Wenn sie Thiagos Werbung annahm, war es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie später am Abend zu ihrer Kaserne zurückkehren würde.
Wenn sie sich seine Klauenhände auf ihrer Haut vorstellte, fröstelte sie. Wie würde es sich anfühlen? Sie hatte den Liebesakt noch nie vollzogen – auch in diesem Sinne war sie »rein«, was Thiago höchstwahrscheinlich wusste. Sie war volljährig, ihr Körper hatte Triebe und Sehnsüchte wie jeder andere auch, und Chimären waren nicht übertrieben sittenstreng, wenn es um Sexualität ging. Natürlich hatte sie schon oft daran gedacht. Für Madrigal war nur einfach noch nicht der Moment gekommen, in dem es ihr richtig erschienen war.
»So, du bist fertig«, verkündete Chiro schließlich. Sie und Nwella zogen Madrigal auf die Füße und traten einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. »Oh«, hauchte Nwella. Nach kurzem Schweigen meinte Chiro mit monotoner Stimme: »Du bist so schön.«
Aber es klang nicht wie ein Kompliment.
***
Als Chiro nach der Schlacht von Kalamet in der Kathedrale erwachte, war Madrigal an ihrer Seite. »Alles ist gut«, sagte sie, als Chiros Augenlider sich flatternd öffneten. Es war Chiros erste Wiedererweckung, und Wiedergänger berichteten oft, dass sie in diesem Augenblick vollkommen desorientiert waren. Madrigal hoffte, dass der Übergang dadurch, dass sie den neuen Körper so gut an die ursprüngliche Gestalt ihrer Schwester angepasst hatte, etwas leichter würde. »Alles ist gut«, wiederholte sie und ergriff Chiros Hand mit der
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