Daughter of Smoke and Bone
fest davon ausgingen, fühlte es sich beinahe so an. Aber es war noch nicht zu spät, sie konnte sich immer noch weigern, zum Ball zu gehen – das wäre die gegenteilige Botschaft des gezuckerten Auftritts. Sie musste sich nur entscheiden, was sie wollte.
Eine ganze Weile stand sie vor dem Spiegel. Ihr war schwindlig, und sie hatte das Gefühl, dass die Zukunft sich ihr in rasendem Tempo näherte.
So war es auch, obwohl Madrigal in diesem Moment natürlich nicht wissen konnte, dass die Zukunft tatsächlich zu ihr unterwegs war – auf unsichtbaren Flügeln, mit Augen, die keine Maske verhüllen konnte –, und dass ihre Entscheidungen, wie immer sie ausfielen, bald wie Staub von einem Flügelschlag weggefegt werden und an ihrer Stelle das Undenkbare hinterlassen würden.
Liebe.
»Gehen wir«, sagte sie, hakte sich bei Chiro und Nwella unter und machte sich auf den Weg, der Zukunft entgegen.
Die Serpentine
Loramendis Hauptdurchgangsstraße, die Serpentine, war am Geburtstag des Kriegsherrn eine Prozessionsroute. Es war Brauch, sie der Länge nach zu durchtanzen, von einem maskierten Partner zum nächsten, den ganzen Weg zur Agora, dem Versammlungsplatz der Stadt. Dort fand der Ball statt, unter Tausenden von Laternen, die wie Sterne von den Stäben des Käfigs herabhingen und ihn für eine Nacht in eine Miniaturwelt mit einem eigenen Firmament verwandelten.
Madrigal stürzte sich mit ihren Freundinnen in die Menge, wie sie es auch in den vergangenen Jahren getan hatte, aber diesmal merkte sie sofort, dass alles anders war.
Sicher, sie trug eine Maske, aber man erkannte sie trotzdem – ihr Äußeres war viel zu charakteristisch –, und obwohl sie gezuckert war, nahm niemand das Schimmern ihrer Schultern als Einladung. Jeder wusste, dass es nicht für ihn bestimmt war. Im wilden Frohsinn der Straße war Madrigal so isoliert, als würde sie in einer Kristallkugel an den anderen vorübertreiben.
Chiro und Nwella dagegen wurden von Wildfremden in die Arme geschlossen und geküsst, Maske um Maske. Das war Tradition: Ein wirbelnder, stampfender Tanz, freizügig mit Zärtlichkeiten durchsetzt, um die Einigkeit der Rassen zu feiern. In unregelmäßigen Abständen liefen Musiker im Zug mit, so dass die Feiernden wie von Hand zu Hand ohne Unterbrechung von einer Melodie zur nächsten weitergereicht wurden. Wilde Musik wirbelte sie vorwärts, aber niemand suchte Madrigals Nähe. Ein paarmal machte ein Soldat Anstalten, sich ihr zu nähern – einer ergriff sogar ihre Hand –, aber immer war sofort ein Freund da, der ihn rasch wegzerrte und ihm eine Warnung zuflüsterte. Zwar konnte Madrigal nicht hören, was gesagt wurde, aber das war auch nicht nötig – sie konnte es sich vorstellen.
Sie gehört Thiago.
Niemand berührte sie. Ganz allein trieb sie durch die feiernde Menge.
Wo ist Thiago?, fragte sie sich, während ihr Blick von Maske zu Maske huschte. Wenn sie aus dem Augenwinkel lange weiße Haare oder eine Wolfgestalt wahrnahm, machte ihr Herz einen Sprung, aber jedes Mal war es jemand anderes. Die langen weißen Haare gehörten einer alten Frau, und Madrigal musste über sich selbst lachen, weil sie so zappelig war.
Sämtliche Einwohner von Loramendi waren auf der Straße, aber irgendwie machte jeder Platz für Madrigal, und so steuerte sie im Kielwasser ihrer Freundinnen ganz allein auf die Agora zu. Bestimmt war Thiago dort, stand wahrscheinlich mit seinem Vater auf dem Balkon des Palasts und beobachtete, wie die Menge anbrandete, wie Welle um Welle von Chimären von der Prozession auf den Platz gespült wurde.
Und er würde nach Madrigal Ausschau halten.
Unbewusst verlangsamte sie ihre Schritte. Nwella und Chiro bewegten sich tanzend und küssend weiter vor ihr her. Meistens berührten sie dabei nur mit den Lippen ihrer Masken die Lippen – Schnäbel, Schnauzen – anderer Masken, aber gelegentlich gab es auch richtige Küsse, ohne Rücksicht auf Kaste und Erscheinungsbild. Von früheren Festen kannte Madrigal das Gefühl – den Graswein-Atem von Wildfremden, die Liebkosung einer schnurrbärtigen Tigerschnauze, eines Drachen, eines Menschenmanns. Aber nicht heute Abend.
Heute war sie isoliert – sie wurde angestarrt, aber nicht berührt, geschweige denn geküsst. Die Serpentine erschien ihr sehr lang, so ganz allein.
Doch dann packte jemand sie am Ellbogen. Die Berührung, die ihrer Isolation so abrupt ein Ende setzte, war seltsam irritierend, und weil sie dachte, es wäre Thiago,
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