Daughter of Smoke and Bone
immer wieder zu sterben. »Tod, Tod und immer wieder den Tod«, wie Chiro es ausgedrückt hatte. Sie waren einfach nie genug. Ständig kamen neue Soldaten – die Kinder von Loramendi und aus den freien Territorien, zum Kämpfen ausgebildet, sobald sie eine Waffe halten konnten –, aber der Tribut war hoch. Selbst mit Hilfe der Wiedererweckung waren die Chimären immer vom Aussterben bedroht.
»Die Bestien müssen vernichtet werden«, donnerte Joram nach jeder Ansprache vor seinem Kriegsrat – die Engel waren wie der lange Schatten des Todes, und alle Chimären lebten in seinem kalten Bann.
Wenn die Chimären eine Schlacht gewannen, war das Sammeln leicht. Die Überlebenden zogen über Land und durch die Städte, suchten die Leichen, entzogen ihnen die Seelen und brachten sie Brimstone. In einem ordentlich versiegelten Turibulum konnte eine Seele unbegrenzt aufbewahrt werden. Im Freien, den Elementen ausgesetzt, dauerte es nur wenige Tage, ehe sie sich auflösten, wie Atem im Wind, und endgültig aufhörten zu existieren.
An sich war die Auflösung kein düsteres Schicksal, denn im Grunde war Zersetzung ja der Gang der Dinge – es passierte im natürlichen Tod, jeden Tag. Für einen Wiedergänger, der schon in vielen Körpern gelebt und einen Tod nach dem anderen erlitten hatte, erschien die Auflösung manchmal wie ein Traum von Ruhe und Frieden. Doch die Chimären konnten es sich nicht leisten, ihre Soldaten einfach gehen zu lassen.
»Würdest du ewig leben wollen?«, hatte Brimstone Madrigal gefragt. »Nur um immer wieder qualvoll zu sterben?«
Im Lauf der Jahre beobachtete sie, wie es ihn plagte, so viele Kreaturen immer wieder diesem Schicksal auszusetzen, sie nie zur Ruhe kommen zu lassen. Wie diese Last ihn niederdrückte, ihn krumm machte und an den Rand der Erschöpfung trieb, bis er nur noch mürrisch vor sich hinstarren konnte.
Davon hatte Chiro so hart gesprochen, während Madrigal sich zu entscheiden versuchte, ob sie Thiago heiraten sollte: Wie sie ein Wiedergänger geworden war. Madrigal konnte diesem Schicksal entrinnen, denn Thiago wollte sie »rein«, also würde er dafür sorgen, dass sie am Leben blieb – schon jetzt beeinflusste er seine Befehlshaber, Madrigals Bataillon möglichst außerhalb der Gefahrenzone zu halten. Wenn sie Thiago wählte, dann würde sie nie Hamsas haben. Nie wieder würde sie in den Kampf ziehen.
Vielleicht war es wirklich das Beste – für sie selbst und auch für ihre Kameraden. Sie allein wusste, wie wenig sie für den Kampf geeignet war. Sie hasste das Töten – selbst wenn es um Engel ging. Noch nie hatte sie jemandem verraten, was sie vor zwei Jahren in Bullfinch getan hatte. Sie hatte das Leben eines Seraphs verschont. Und nicht nur verschont, nein, sie hatte ihn gerettet! Was war da nur über sie gekommen? Sie hatte seine Wunde verbunden. Sie hatte sein Gesicht gestreichelt. Wenn sie daran dachte, stieg eine große Scham in ihr auf – wenigstens nannte sie es Scham, dieses Gefühl, das ihr Herz schneller schlagen ließ und ihr Gesicht mit einer zarten Röte überzog.
So heiß war die Haut des Engels gewesen, wie im Fieber, und seine Augen wie Feuer.
Die Frage, ob er noch lebte, ließ ihr keine Ruhe. Eigentlich hoffte sie, dass er inzwischen gestorben und mit ihm auch jeder Beweis ihres Hochverrats im Nebel von Bullfinch verlorengegangen war. Jedenfalls redete sie sich das ein.
Nur wenn sie erwachte, den Spitzensaum eines Traums noch federleicht in der Hand, wurde die Wahrheit offenbar. Sie träumte, dass der Engel lebte. Sie
hoffte
, dass er lebte. Zwar leugnete sie es, aber das änderte nichts, und die Erinnerung kam oft blitzartig, immer begleitet von einer Beschleunigung ihres Herzschlags, von einem Erröten und seltsamen Schauern der Erregung, die bis in ihre Fingerspitzen zu spüren waren.
Manchmal dachte sie, dass Brimstone Bescheid wusste. Ein- oder zweimal, als die Erinnerung sie hinterrücks und heiß überfallen hatte, blickte er von der Arbeit auf, als hätte irgendetwas seine Aufmerksamkeit erregt. Auch Kishmish, der wie üblich auf seinem Horn kauerte, schaute zu ihr, und dann starrten alle beide sie eine Weile unverwandt an. Aber was immer Brimstone wusste oder nicht wusste, er verlor nie ein Wort darüber, genauso wie er auch nie ein Wort über Thiago verlor, obwohl er doch wissen musste, dass Madrigal sich über das Problem den Kopf zerbrach.
Und heute Abend beim Ball würde nun die Entscheidung fallen, so oder so.
Etwas
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