Daughter of Smoke and Bone
dieses Mädchen?
Er wusste es nicht, aber seine Intuition sagte ihm, dass sie nicht zu Brimstones üblichen Todbringern gehörte. Sie war etwas ganz anderes.
Ohne sie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, folgte er ihr auf ihrem Weg durch die Medina.
Der Grabräuber
Karou hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben und versuchte noch immer, das Unbehagen abzuschütteln, das Brimstones Worte in ihr hervorgerufen hatten. Dieses ganze Zeug darüber, dass sie sich »ihre Freiheit nehmen« könnte. Was sollte das heißen? Sie hatte Angst, dass sie bald allein dastehen würde, wie ein verwaistes Tier, das Weltverbesserer bei sich aufgenommen hatten und bald in die Wildnis entlassen würden.
Aber sie wollte nicht in die Wildnis entlassen werden. Sie wollte sich geborgen fühlen. An einen Ort und zu einer Familie gehören, ein für alle Mal.
»Magische Heilung für schwermütige Eingeweide«, rief ihr jemand zu, und das Angebot brachte sie zum Lächeln, auch wenn sie es mit einem Kopfschütteln ablehnte. Gab es auch ein Heilmittel für ein schwermütiges Herz? Wahrscheinlich. Manche der Wunderdoktoren hier konnten echte Magie bewirken. Sie wusste von einem ganz in Weiß gekleideten Schriftgelehrten, der Briefe an die Toten schrieb –
und
zustellte –, und von einem alten Geschichtenerzähler, der Ideen an Schriftsteller verkaufte und ein Jahr ihres Lebens dafür verlangte. Karou hatte gesehen, wie Touristen seine Verträge lachend unterschrieben, weil sie ihm kein Wort glaubten, aber sie glaubte ihm. Hatte sie nicht schon viel seltsamere Dinge gesehen?
Mit der Zeit lenkte die Stadt sie aber von ihren Sorgen ab. An solch einem Ort war es schwer, deprimiert zu sein. In manchen der gewundenen Gassen, den sogenannten Derbs, schien die Welt in Teppiche gehüllt. In anderen tropfte es scharlachrot und kobaltblau von frisch gefärbter Seide, die über den Köpfen der Passanten hing. Verschiedene Sprachen drängten sich in der Luft wie exotische Vögel: Arabisch, Französisch, die Stammessprachen. Frauen scheuchten ihre Kinder nach Hause ins Bett, und alte Männer mit Turbanen lehnten rauchend in Türeingängen.
Trillerndes Gelächter, der Geruch nach Zimt und Eseln – und Farbe, überall Farbe.
Karous Ziel war der Djemaa el-Fna, der Platz, der den Lebensnerv der Stadt bildete, ein verrückter, von einer kunterbunten Menschenmasse wimmelnder Karneval: Schlangenbeschwörer und Tänzer, kleine Jungen mit Sand an den nackten Füßen, Taschendiebe, glücklose Touristen und Essenstände, an denen einfach alles verkauft wurde, von Orangensaft bis zu gebratenen Schafsköpfen. Bei manchen Aufträgen konnte es Karou kaum erwarten, zum Portal zurückzukommen, aber in Marrakesch schlenderte sie gerne herum, schlürfte Pfefferminztee, zeichnete und durchstöberte die Souks nach spitzen Schlappen und silbernen Armreifen.
Heute Abend würde sie allerdings nicht herumtrödeln. Brimstone brauchte die Zähne offenbar dringend. Sie dachte an die leeren Gläser, und sofort spürte sie wieder eine große Neugier. Was hatte das alles zu bedeuten?
Was nur?
Sie versuchte jedoch, nicht weiter darüber nachzudenken. Immerhin war sie auf dem Weg zum Grabräuber, und Izîl diente als lebende Mahnung, dass man sich an Brimstones Regeln halten sollte.
»Sei nicht neugierig«, lautete eine der Grundregeln, und Izîl hatte sie missachtet. Karou hatte Mitleid mit ihm, weil sie ihn verstehen konnte. Auch in ihr brannte die Neugier wie ein perverses Feuer, das umso heller brannte, je mehr man es auszulöschen versuchte. Je öfter Brimstone ihre Fragen ignorierte, desto mehr sehnte sie sich nach Antworten. Und sie hatte eine
Menge
Fragen.
Zu den Zähnen, natürlich: Wofür zur Hölle waren sie da?
Was war mit der anderen Tür? Wo führte sie hin?
Was genau waren die Chimären, und wo waren sie hergekommen? Gab es noch mehr von ihnen?
Und was war mit ihr? Wer waren ihre Eltern, und wie war sie in Brimstones Obhut gekommen? War sie eine Art Märchenklischee, wie das erstgeborene Kind in »Rumpelstilzchen«, mit dem eine Schuld beglichen werden musste? Oder vielleicht war ihre Mutter eine Händlerin gewesen, die von ihrem Schlangenhalsband erwürgt worden war und ihr Baby schreiend auf dem Boden des Ladens zurückgelassen hatte. Karou hatte sich schon Hunderte Szenarios ausgemalt, aber die Wahrheit blieb ein Mysterium.
War ein anderes Leben für sie vorgesehen? Manchmal war sie sich plötzlich absolut sicher, dass es so war – dass ein
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