Daughter of Smoke and Bone
vielleicht hätten wir dich verloren.«
»Mich verloren? Du dachtest, ich wäre
tot
?«
»Nein, Karou. Ich dachte, du hättest dir deine Freiheit genommen.«
»Meine …« Karou verstummte.
Sich ihre Freiheit genommen?
»Was meinst du damit?«
»Ich habe mir immer vorgestellt, dass sich eines Tages dein Lebensweg vor dir ausrollt und dich von uns wegträgt. Wie er sollte, wie er muss. Aber ich bin froh, dass der Tag nicht heute gekommen ist.«
Karou starrte ihn ungläubig an. »Im Ernst? Ich lehne einen Auftrag ab, und du denkst, das war’s, ich bin weg für immer? Mein Gott. Wofür hältst du mich, dass du denkst, ich würde einfach so abhauen?«
»Dich gehen zu lassen, Karou, wird so ähnlich, wie für einen Schmetterling das Fenster zu öffnen. Man hofft nicht, dass der Schmetterling zurückkommt.«
»Ich bin aber kein verdammter Schmetterling.«
»Nein. Du bist ein Mensch. Dein Platz ist die Welt der Menschen. Deine Kindheit ist fast vorbei …«
»Und … was jetzt? Brauchst du mich nicht mehr?«
»Im Gegenteil. Ich brauche dich mehr als je zuvor. Wie gesagt, ich bin froh, dass heute nicht der Tag ist, an dem du uns verlässt.«
Das war alles neu für Karou. Sie hatte nicht gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem sie ihre Chimärenfamilie verlassen würde, oder auch nur, dass sie jederzeit gehen konnte, wenn sie nur wollte. Aber sie wollte nicht. Na ja, vielleicht wünschte sie sich weniger schaurige Aufträge, doch das hieß ja noch lange nicht, dass sie ein Schmetterling war, der hilflos gegen das Glas flatterte und verzweifelt zu fliehen versuchte. Ihr fehlten die Worte.
Brimstone schob ihr über den Tisch eine Geldbörse zu.
Der Auftrag. Sie hatte schon fast vergessen, weswegen sie hier war. Verärgert griff sie sich die Börse und klappte sie auf. Dirham. Marokko also. Sie runzelte die Stirn. »Izîl?«, fragte sie, und Brimstone nickte.
»Aber es ist noch nicht Zeit.« Immer am letzten Sonntag eines Monats traf sich Karou mit einem Grabräuber in Marrakesch, und jetzt war Freitag, eine Woche zu früh.
»Es ist Zeit«, sagte Brimstone. Er deutete auf ein großes Apothekerglas im Regal hinter ihm. Karou kannte es nur zu gut; normalerweise war es voller Menschenzähne. Jetzt war es so gut wie leer.
»Oh.« Sie ließ ihren Blick über den Rest des Regals schweifen und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass viele der anderen Gläser ähnlich aussahen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass der Vorrat an Zähnen je so knapp gewesen wäre. »Wow. Du hast die Zähne ja echt verheizt. Ist irgendwas los?«
Es war eine dumme Frage. Als ob sie verstehen könnte, was es zu bedeuten hatte, dass er
mehr
Zähne benutzte, wo sie nicht einmal wusste, wozu sie überhaupt da waren.
»Sieh nach, was Izîl hat«, sagte Brimstone. »Wenn es sich vermeiden lässt, würde ich dich lieber nicht woanders hinschicken, um Menschenzähne zu besorgen.«
»Ja, das wär mir auch lieber.« Karou strich mit den Fingern über die Narben, die ihre Schusswunde hinterlassen hatte, und dachte an St. Petersburg, den Auftrag, der so schrecklich schiefgegangen war. Obwohl es auf der Welt so unendlich viele gab, waren menschliche Zähne manchmal … schwierig aufzutreiben.
Nie würde sie den Anblick der Mädchen vergessen, wie sie mit blutigen Mündern im Frachtraum kauerten und darauf warteten, was das Schicksal als Nächstes mit ihnen anstellen würde.
Vielleicht waren sie entkommen. Wenn Karou jetzt an sie dachte, stellte sie sich gerne vor, dass ihre Geschichte gut ausgegangen war, so wie Issa ihr beigebracht hatte, sich für ihre Albträume ein glückliches Ende auszudenken, damit sie wieder einschlafen konnte. Sie konnte die Erinnerung nur ertragen, wenn sie daran glaubte, dass sie den Mädchen genug Zeit gegeben hatte, den Sklavenhändlern zu entkommen. Und vielleicht war es ihr tatsächlich gelungen. Zumindest hatte sie es versucht.
Wie seltsam es sich angefühlt hatte, angeschossen zu werden. Wie
ruhig
sie geblieben war, wie schnell sie ihr Messer gezogen und zugestochen hatte.
Und noch einmal. Und noch einmal.
Sie hatte jahrelang verschiedenste Kampfkünste trainiert, aber sie hatte noch nie zuvor um ihr Leben gekämpft. Doch im Bruchteil einer Sekunde hatte sie gewusst, was sie tun musste.
»Versuch es mal auf dem Djemaa el-Fna«, sagte Brimstone. »Kishmish hat Izîl dort gesehen, aber das war vor Stunden, als ich das erste Mal nach dir geschickt habe. Wenn du Glück hast, ist er immer noch da.« Damit
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