Daughter of Smoke and Bone
wartete, aber er sagte nichts mehr, und dann … geschah etwas in der Luft um ihn herum.
Erst war es nur ein diffuser Schimmer, wie eine Aura, dann helles Licht, und dann wurden Flügel daraus, die hoch über seinen Schulterblättern aufragten, sich über den Sessel breiteten und in Arabesken von Feuer über den Teppich strichen. Karou erschrak und hätte um ein Haar einen Schreckensschrei ausgestoßen, als sie seine Flügel offenbart sah, doch die Flammen griffen nicht über, kein Rauch stieg von ihnen auf. Die sanften Bewegungen der Feuerfedern waren hypnotisch. Minutenlang starrte Karou sie an, tief atmend, während Akivas Züge sich entspannten und sein Gesicht einen friedlichen Ausdruck annahm. Dieses Mal war er wirklich eingeschlafen.
Langsam stand Karou auf, nahm ihm das Wasserglas aus der Hand und machte das Licht aus. Seine Flügel spendeten genügend Licht, sogar fürs Zeichnen. Sie holte ihr neuestes Skizzenbuch und einen Bleistift heraus, zeichnete Akiva schlafend, unter dem Zelt seiner Schwingen, und dann aus der Erinnerung, mit geöffneten Augen. Sie versuchte, die Augen so genau wie möglich einzufangen: Für den schweren schwarzen Lidstrich, der ihm so ein exotisches Aussehen verlieh, benutzte sie einen Kohlestift und da sie die feurige Iris auf keinen Fall farblos lassen konnte, mussten Wasserfarben her. So malte und zeichnete sie eine ganze Weile, und er bewegte sich nicht, nur seine Brust hob und senkte sich, und der Schimmer seiner Flügel wanderte durch das Zimmer wie Feuerschein.
Karou wollte nicht schlafen, aber irgendwann nach Mitternacht wurde sie so müde, dass sie sich kurzerhand auf den Erdrutsch von Skizzenbüchern legte, um für einen Moment »die Augen auszuruhen«. Im Handumdrehen war sie tief in einem Traum versunken, und als sie kurz vor Morgendämmerung aufwachte – etwas weckte sie, ein kurzer, heller Ton –, war ihr das Zimmer um sie herum einen Moment lang völlig fremd. Nur die Flügel an der Wand waren ihr vertraut, und sie spürte große Freude, als sie sie sah. Aber dann fiel der Traum so plötzlich von ihr ab, wie es für Träume nun einmal üblich ist.
Natürlich war sie in ihrer Wohnung, auf ihrem Bett, und das Geräusch, das sie geweckt hatte, war Akiva.
Er stand über ihr, seine Augen loderten, weit aufgerissen, die orangene Iris wie ein Lavasee, und in den Händen hielt er Karous Mondsichelklingen.
Richtig
Karou setzte sich so plötzlich auf, dass die Skizzenbücher wie eine Lawine vom Bett rutschten. Sie hatte immer noch den Bleistift in der Hand, und ein einziger Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Wenn dieser Engel sie angriff, hatte sie immer nur lächerliche Waffen zur Verfügung. Doch noch während sich ihre Finger fester um den Stift legten, wich Akiva zurück und ließ die Messer sinken.
Er legte sie dorthin zurück, wo Karou sie zurückgelassen und er sie gefunden hatte – in den Kasten, der auf ihrem Beistelltisch stand, also praktisch direkt unter seiner Nase.
»Entschuldige«, sagte er. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
In diesem Augenblick, in dem er, nur vom Schimmer seiner Schwingen beleuchtet, vor ihr stand, erschien ihr sein Anblick so …
richtig. Er
war richtig. Es machte absolut keinen Sinn, aber das Gefühl durchflutete Karou, und was immer es sein mochte – es war so schön wie ein Fleckchen Sonnenlicht auf dem Boden, in dem sie sich am liebsten wie eine Katze zusammengerollt hätte.
Sie versuchte, so zu tun, als wäre sie nicht kurz davor gewesen, mit einem Bleistift auf ihn loszugehen. »Also«, sagte sie, streckte sich und ließ den Stift so unauffällig wie möglich aus ihrer Hand rutschen. »Ich kenne eure Sitten nicht, aber hier hält man jemandem nicht beim Aufwachen ein Messer ins Gesicht, wenn man ihn
nicht
erschrecken möchte.«
War das ein Lächeln? Nein. Nur ein Zucken im Mundwinkel; das zählte nicht.
Karous Blick fiel auf das Skizzenbuch, das offen vor ihr lag, so dass Akiva das Indiz für ihr nächtliches Treiben kaum übersehen konnte. Sie klappte das Buch schnell zu, obwohl er das Porträt wahrscheinlich schon bemerkt hatte, als sie schlief.
Wie hatte sie einschlafen können, während dieser Fremde in ihrer Wohnung war? Und wie war sie überhaupt auf die Idee gekommen, diesen Fremden in ihre Wohnung
mitzunehmen
?
Aus einem einfachen Grund: Er kam ihr nicht wie ein Fremder vor.
»Sie sind sehr ungewöhnlich«, meinte Akiva und deutete auf den Messerkasten.
»Ich habe sie noch nicht lange«, erwiderte
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