Daughter of Smoke and Bone
Karou. »Sie sind wirklich schön, oder?«
»Ja, sehr schön«, stimmte er zu, und vielleicht meinte er die Messer, aber er sah Karou direkt an.
Sie errötete, weil sie sich plötzlich fragte, wie sie wohl aussah – zerzauste Haare, Speichelspuren im Gesicht? –, aber dann wurde sie wütend. Warum spielte Äußeres überhaupt eine Rolle? Was zur Hölle ging hier vor sich? Sie schüttelte das Gefühl ab, kletterte aus dem Bett und versuchte einen Platz zu finden, an dem seine Aura sie nicht erreichen konnte. Doch das war unmöglich.
»Ich bin gleich zurück«, sagte sie, ging in den Flur und von dort in ihr winziges Badezimmer. Als sie allein war, bekam sie plötzlich Angst, dass er nicht mehr da sein könnte, wenn sie zurückkam. Sie ging aufs Klo, wobei sie sich unwillkürlich fragte, ob die Seraphim wohl über solch weltliche Notwendigkeiten erhaben waren – nach den dunklen Stoppeln auf seinen Wangen zu urteilen, musste Akiva sich jedenfalls rasieren –, dann spritzte sie sich Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne und bürstete sich schnell die Haare. Mit jedem Moment, den sie hier vertrödelte, wuchs ihre Sorge. Was, wenn sie bei ihrer Rückkehr ein leeres Zimmer und eine offene Balkontür vorfand? Sie wüsste nicht einmal, in welche Himmelsrichtung Akiva davongeflogen war.
Aber er war noch da. Seine Flügel waren wieder verschwunden und seine Schwerter zurück an ihrem angestammten Platz in den Lederscheiden auf seinem Rücken.
»Das Badezimmer ist da drüben, wenn du, äh …«
Er nickte und ging an ihr vorbei ins Bad. Offensichtlich war es nicht einfach, sich mit seinen Schwingen in den kleinen Raum zu zwängen, aber nach einem kurzen, unbehaglichen Moment hatte er es geschafft und zog die Tür hinter sich zu. Karou zog sich schnell frische Klamotten an, dann ging sie zum Fenster. Draußen war es immer noch dunkel. Sie warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass es gerade mal fünf Uhr war. Aber sie war am Verhungern und seit ihrer gestrigen Nahrungssuche wusste sie, dass es in ihrer Küche nichts auch nur ansatzweise Essbares gab. »Hast du Hunger?«, fragte sie Akiva, als er aus dem Bad kam.
»Und wie, ich verhungere fast.«
»Dann komm mit.« Karou griff sich Mantel und Schlüssel und machte sich auf den Weg zur Wohnungstür, hielt aber plötzlich inne und machte kehrt. Mit einem schelmischen Grinsen in Akivas Richtung ging sie auf den Balkon, kletterte auf die Balustrade und ließ sich fallen. Sechs Stockwerke tiefer landete sie, so sanft wie eine Feder, und ein selbstzufriedenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Akiva war direkt hinter ihr, natürlich ohne Lächeln. Sie konnte sich gar nicht wirklich vorstellen, ihn lächeln zu sehen – er war immer so ernst. Aber wenn er sie ansah, war etwas in seinen Augen – auch jetzt, in dem Seitenblick, den er ihr zuwarf. Staunen? Verwunderung? Karou erinnerte sich daran, was er ihr in der Nacht erzählt hatte, und jetzt, wo sie Gefühle in seinen Augen aufflackern sah, krampfte sich ihr Herz vor Mitleid zusammen. Wie schrecklich musste sein Leben gewesen sein, wenn er so früh dem Krieg ausgesetzt worden war! Sie konnte sich seine grausamen Erfahrungen nicht vorstellen, nicht einmal ansatzweise, aber sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie er noch vor kurzem ausgesehen hatte, erinnerte sich an seine toten Augen. Die Art, wie er sie jetzt anschaute, gab ihr das Gefühl, als würde er
für sie
von den Toten zurückkehren, und das war phantastisch – und sehr intim. Als sich ihre Blicke das nächste Mal begegneten, musste sie wegsehen.
Karou nahm Akiva mit zu ihrer Lieblingsbäckerei. Die war zwar noch nicht geöffnet, aber der Bäcker kannte Karou und verkaufte ihnen zwei Brotlaibe durchs Fenster – Honig-Lavendel, frisch aus dem Ofen und noch richtig heiß. Und dann tat Karou etwas, was vermutlich alle Menschen tun würden, wenn sie fliegen könnten und sich in der Morgendämmerung mit leckerem frischem Brot auf den Straßen von Prag wiederfanden.
Sie schwang sich in die Lüfte, signalisierte Akiva, ihr zu folgen, und flog über den Fluss zum Glockenturm der Kathedrale, wo sie sich auf der hohen, kühlen Kuppel niederließen, um den Sonnenaufgang zu bewundern.
***
Akiva folgte ihr dichtauf und beobachtete, wie ihre langen, von Tautropfen benetzten Haare im Wind tanzten. Er war durchaus überrascht gewesen, Karou fliegen zu sehen. Er hatte bloß über viele Jahre gelernt, jedes Gefühl, jede spontane Reaktion zu
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