Daughter of Smoke and Bone
unterdrücken. Jedenfalls hatte er geglaubt, sich derart unter Kontrolle zu haben. Aber in Gegenwart dieses Mädchens war anscheinend alles anders.
Elegant und geschickt bewegte sie sich durch die Luft. Es war Magie – keine verzauberten Flügel, sondern die Erfüllung des Wunsches zu fliegen. Eines Wunsches, den ihr vermutlich Brimstone gewährt hatte. Der Gedanke an Brimstone war wie ein Tintenfleck mitten auf einem schönen Bild; ein finsterer Gedanke, der so gar nicht zu Karous strahlender Erscheinung passen wollte.
Wie konnte so etwas Schönes wie Karous anmutiger Flug bloß aus Brimstones dunkler Magie entstehen?
Hoch genug, dass kein Mensch sie zufällig sehen konnte, flogen sie über den Fluss zu der Kathedrale, die das Herz der Burg bildete, ein Ungetüm gotischer Baukunst, zerklüftet und verwittert wie eine Klippe, die seit Jahrhunderten den Stürmen trotzt. Karou landete auf der Kuppel des Glockenturms. Es war kein sehr gemütlicher Aussichtsplatz. Der Wind brauste ihnen um die Ohren, eisig und gemein, und Karou musste sich die Haare aus dem Gesicht halten, um überhaupt etwas sehen zu können. Sie zog einen Bleistift aus der Tasche – war das derselbe Bleistift, mit dem sie ihn bedroht hatte? –, zwirbelte ihre Haare zu einem lockeren Knoten zusammen und steckte ihn mit dem Stift fest; er war anscheinend eine Allzweckwaffe. Ein paar blaue Strähnen lösten sich sofort, tanzten über ihre Stirn und blieben an ihren lächelnden Lippen hängen. »Wir sind auf der Kathedrale«, verkündete sie mit simpler, kindlicher Freude.
Akiva nickte.
»Wir sind
auf
der Kathedrale!«, wiederholte sie, und er stutzte. Hatte er irgendetwas verpasst, irgendeine sprachliche Nuance? Aber dann begriff er plötzlich. Karou war völlig fasziniert. Fasziniert, auf einer Kathedrale zu sitzen und auf die Dächer ihrer Heimatstadt hinabzublicken. Sie schlang die Arme um den warmen Brotlaib und nahm die Aussicht in sich auf. Ihr Gesicht war so hingerissen, erfüllt von einer so grenzenlosen Ehrfurcht, wie Akiva sie noch nie empfunden hatte, nicht einmal, als das Fliegen auch für ihn noch neu gewesen war. Seine ersten Flüge waren kein Anlass für Ehrfurcht oder Freude gewesen, sondern eine Disziplin. Aber er wollte teilhaben an diesem Moment, der ihr Gesicht so zum Strahlen brachte, begab sich an ihre Seite und ließ den Blick schweifen.
Es war wirklich ein bemerkenswerter Anblick, wie die Morgenröte die Türme in einen sanften Lichtschein tauchte, während der Rest der Stadt noch in Dunkelheit lag, nur erhellt vom schwachen Schein der Straßenlaternen und gelegentlich vorbeiziehender Scheinwerfer.
»Du warst noch nie hier oben?«, fragte er.
Karou wandte sich ihm zu. »Doch, klar. Ich bringe alle Jungs hierher.«
»Und wenn sie sich nicht benehmen, stößt du sie einfach in die Tiefe.«
Das hätte er nicht sagen sollen. Karous Gesicht verfinsterte sich. Zweifelsohne dachte sie an Izîl, und Akiva ermahnte sich innerlich, dass er lieber nicht versuchen sollte, Witze zu machen. Es war lange her, dass ihm das letzte Mal nach Lachen zumute gewesen war – kein Wunder, dass seine Scherze missglückten.
»Ehrlich gesagt habe ich mir den Wunsch zu fliegen erst vor ein paar Tagen erfüllt«, lenkte Karou von seiner Bemerkung ab. »Ich hatte noch nicht viel Gelegenheit, es zu genießen.«
Erneut war er überrascht, und dieses Mal sah man es ihm wohl an, denn Karou erwiderte seinen Blick und fragte: »Was?«
Akiva schüttelte den Kopf. »Du hast dich in der Luft so mühelos bewegt und dich so ohne das geringste Zögern vom Balkon fallen lassen, als wäre das Fliegen ein Teil von dir.«
»Weißt du was? Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass die Wirkung des Wunsches mit der Zeit vielleicht nachlassen könnte. Da hätte ich die Angeberei echt bereut. Platsch.« Mit einem unbekümmerten Lachen fügte sie hinzu. »Ich sollte wirklich vorsichtiger sein.«
»Lassen die Wünsche tatsächlich nach?«, erkundigte sich Akiva.
Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich denke eher nicht. Jedenfalls sind meine Haare blau geblieben.«
»Das ist ein Wunsch? Brimstone hat zugelassen, dass du Magie für … so etwas einsetzt?«
»Na ja. Er war nicht gerade begeistert.« Karou warf ihm einen Seitenblick zu, der gleichzeitig verlegen und trotzig war. »Es ist nicht so, als hätte er mir je
richtige
Wünsche gegeben. Gerade genug, um ein bisschen Unheil zu stiften … Oh.« Plötzlich kam ihr ein
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