DavBen-StaderDie
vereinzelt feiner Glasstaub, der im Mondlicht glitzerte.
Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich stundenlang verständnislos auf die Ruinen gestarrt. Das Kirow war mein Leben. Vera und Oleg und Grischa. Ljuba Nikolajewna, die alte Jungfer aus dem vierten Stock, die aus der Hand las und für alle Frauen im Haus Kleider ausbesserte, die mich in einer Sommernacht im Treppenhaus einen Roman von H. G. Wells lesen sah und mir am nächsten Tag einen vollen Karton mit den Werken von Robert Louis Stevenson, Rudyard Kipling und Charles Dickens schenkte. Anton Danilowitsch, der Hausmeister, der im Souterrain wohnte und uns jedes Mal anbrüllte, wenn wir Steine in den Hof warfen oder vom Dach herunterspuckten oder obszöne Schneemänner und Schneefrauen bauten mit Karotten als Schwänzen und Radiergummis als Nippeln. Sawodilow, der angeblich ein Gangster war, dem an der linken Hand zwei Finger fehlten und der immer den Mädchen nachpfiff, selbst wenn sie unansehnlich waren, den unansehnlicheren Mädchen vielleicht sogar lauter nachpfiff, um sie aufzumuntern - Sawodilow, der Feste gab, die bis zum Morgengrauen dauerten, bei denen die neuesten Jazzschallplatten gespielt wurden, Warlamow und sein Septett oder Eddie Rosner; wo Männer und Frauen mit halb offenen Hemden lachend hinaus in den Korridor tanzten, alle alten Leute zur Weißglut brachten, uns Kinder in helle Begeisterung versetzten, sodass wir beschlossen, wenn wir denn erwachsen werden mussten, dann doch wenigstens so wie Sawodilow zu werden.
Das Kirow war ein hässlicher alter Bau, in dem es immer nach Desinfektionsmitteln stank, aber es war mein Zuhause, und es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass es getroffen werden könnte. Ich watete hinein in das Trümmergewirr, bückte mich, um Betonbrocken wegzuräumen. Kolja packte meinen Arm.
»Lew ... komm mit. Ich weiß einen anderen Platz, wo wir übernachten können.«
Ich riss mich von ihm los und fuhr fort, mit den Händen zu graben. Er packte mich erneut, und diesmal hielt er meinen Arm so fest, dass ich mich nicht losreißen konnte.
»Da drunter lebt keiner mehr.«
»Woher willst du das wissen?«
»Schau«, sagte er leise und deutete auf mehrere kleine rote Pfähle, die an verschiedenen Stellen in den Trümmern steckten. »Hier wurde schon gegraben. Das Haus muss letzte Nacht getroffen worden sein.«
»Ich war letzte Nacht hier.«
»Du warst letzte Nacht im Kresty. Komm. Komm mit.«
»Es kann Überlebende geben. Ich hab's gelesen. Menschen überleben manchmal tagelang.«
Kolja betrachtete den Schutthaufen. Der Wind wirbelte Miniaturstürme aus Betonstaub auf.
»Wenn da drin noch jemand am Leben ist, kannst du ihn nicht mit bloßen Händen herausholen. Und wenn du hier bleibst und es die ganze Nacht versuchst, dann machst du es nicht bis zum Morgen. Komm jetzt. Ich hab Freunde in der Nähe. Wir müssen irgendwo Unterschlupf finden.«
Ich schüttelte den Kopf. Sollte ich mein Zuhause einfach verlassen?
»Lew ... Ich will nicht, dass du jetzt nachdenkst. Ich möchte nur, dass du mir folgst. Verstanden? Also komm.«
Er zog mich von den Trümmern herunter, und ich war zu schwach, um mich zu widersetzen, zu müde, um zu trauern oder zu toben oder mich zu sträuben. Ich wollte ins Warme. Ich wollte etwas zu essen. Als wir die Überreste des Kirow hinter uns ließen, konnte ich meine Schritte nicht hören. Ich war ein Phantom geworden. Es gab niemanden mehr in der Stadt, der meinen vollen Namen kannte. Ich empfand meinetwegen keinen besonderen Schmerz, nur eine Art dumpfe Verwunderung, dass ich offenbar noch lebte, mein Atem noch immer im Mondlicht zu sehen war, dieser Kosakensohn noch immer neben mir ging, mich von Zeit zu Zeit ansah, um sich zu vergewissern, dass ich mich vorwärtsbewegte, und den Nachthimmel nach Bombern absuchte.
7
»Kommt rein«, sagte sie, »kommt rein. Ihr seid ja ganz durchgefroren.«
Man merkte gleich, dass Koljas Freundin vor der Belagerung bildschön gewesen war: Das aschblonde Haar fiel ihr fast bis zur Taille; ihre Lippen waren noch immer voll; und sie hatte ein halbmondförmiges Grübchen, das sich jedes Mal in ihrer linken Wange bildete, wenn sie lächelte. Die rechte Wange wies kein entsprechendes Grübchen auf, was merkwürdig schien, und ich stellte fest, dass ich ständig darauf wartete, dass sie lächelte, damit ich wieder das einzelne Grübchen sehen konnte.
Kolja hatte sie auf beide Wangen geküsst, als sie die Tür öffnete, und das Blut war ihr ins Gesicht
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