DavBen-StaderDie
Kugeln aus zerschmetterten Knochen entfernt, verstümmelte Soldaten zusammenzuflicken versucht, alles ohne die Hilfe von Betäubungsmitteln oder Blutkonserven oder elektrischem Strom. Sie hatten nicht einmal genug heißes Wasser, um ihre Skalpelle anständig zu sterilisieren.
»Lew hat im Kirow gewohnt«, sagte Sonja mit einer mitfühlenden Kopfbewegung in meine Richtung. »In dem Haus in der Woinowa, das letzte Nacht getroffen wurde.«
Es gab gemurmelte Worte des Bedauerns, kleine Kopfbewegungen, die Beileid ausdrückten.
»Warst du drin, als es bombardiert wurde?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich blickte rasch zu Kolja, der sich mit einem Bleistiftstummel in seinem Tagebuch Notizen machte und uns keine Beachtung schenkte. Ich blickte wieder auf die Ärzte und Schwestern, die auf eine Antwort warteten. Sie alle waren Fremde. Warum sie mit der Wahrheit belasten?
»Ich habe bei Freunden übernachtet.«
»Einige sind rausgekommen«, sagte Timofei, einer der Chirurgen, ein Künstlertyp mit einer randlosen Brille. »Ich habe gehört, wie jemand im Krankenhaus davon gesprochen hat.«
»Wirklich? Wie viele?«
»Keine Ahnung. Hab nicht so genau hingehört. Tut mir leid, aber ... jeden Tag werden Häuser zerstört.«
Das Gerücht, dass es Überlebende gab, munterte mich auf. Der Luftschutzraum im Keller machte einen soliden Eindruck - alle, die es rechtzeitig dorthin geschafft hatten, konnten überlebt haben. Vera und die Zwillinge rannten mit ihren Familien immer sofort in den Luftschutzkeller, wenn es Fliegeralarm gab. Sawodilow, der Gangster, dagegen - ich erinnere mich nicht, ihn je da unten gesehen zu haben. Er verschlief die Sirenen ebenso, wie er die Vormittage verschlief, einen kalten Waschlappen auf der Stirn und ein nacktes Mädchen neben sich. Zumindest stellte ich es mir so vor. Nein, er hatte es bestimmt nicht in den Luftschutzkeller geschafft, aber andererseits verbrachte Sawodilow auch viele Nächte außerhalb des Kirow, um seinen mysteriösen Geschäften nachzugehen oder sich in der Wohnung eines anderen Kriminellen zu betrinken.
Sonja goss dünnen Tee in zwei Gläser und reichte das eine mir und das andere Kolja. Ich zog zum ersten Mal seit dem Frühstück im Büro des Obersts die Handschuhe aus. Das warme Glas zwischen meinen Handflächen fühlte sich an wie etwas Lebendiges, ein kleines Tier mit Gefühlen und einer Seele. Ich hielt mein Gesicht in den aufsteigenden Dampf und merkte nicht gleich, dass Sonja mich etwas gefragt hatte.
»Wie bitte?«
»Ich habe gefragt, ob deine Angehörigen in dem Haus waren.«
»Nein, die haben die Stadt im September verlassen.«
»Das ist gut. Meine auch. Meine kleinen Brüder sind in Moskau.«
»Und jetzt stehen die Deutschen vor den Toren Moskaus«, sagte Pawel, ein junger Mann mit Frettchengesicht, der unverwandt auf den eisernen Ofen starrte und nie mit jemandem Blickkontakt aufnahm. »In ein paar Wochen nehmen sie es ein.«
»Sollen sie es ruhig einnehmen«, sagte Timofei. »Denn dann machen wir es auf Rostoptschins Tour, brennen alles nieder und ziehen uns zurück. Wo wollen sie dann Unterschlupf finden? Was wollen sie essen? Und der Winter wird ihnen den Rest geben.«
»Auf Rostoptschins Tour ... iiih.« Sonja verzog das Gesicht, als rieche sie etwas Widerliches. »Das klingt ja so, als sei er für dich ein Held.«
»Er war ein Held. Du solltest deine Geschichtskenntnisse nicht von Tolstoi beziehen.«
»Ja, ja, der gute Graf Rostoptschin, der Freund des Volkes.«
»Lass die Politik aus dem Spiel. Hier geht es um Kriegsführung, nicht um den Klassenkampf.«
»Ich soll die Politik aus dem Spiel lassen? Wer muss denn die Politik ins Spiel bringen? Glaubst du vielleicht, dass Kriegsführung nichts mit Politik zu tun hat?«
Kolja beendete den Streit, als er das Wort ergriff. Er blickte dabei in sein Teeglas, das er mit beiden Händen hielt.
»Die Deutschen werden Moskau nicht nehmen.«
»Welcher große Experte sagt das?«, fragte Pawel.
»Ich sage das. Anfang Dezember stand der Feind dreißig Kilometer vor der Stadt. Jetzt ist er hundert Kilometer von ihr entfernt. Die Wehrmacht hat noch nie den Rückzug angetreten. Die Deutschen wissen gar nicht, wie das geht. Alles, wofür sie gedrillt wurden, alles, was sie in der Ausbildung gelernt haben, ist Angreifen. Angreifen, Angreifen, Angreifen. Jetzt gehen sie zurück, und das werden sie so lange tun, bis sie in Berlin auf dem Boden liegen.«
Lange Zeit sagte niemand etwas. Die Frauen in der Gruppe
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