Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

DavBen-StaderDie

Titel: DavBen-StaderDie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
Vom Netzwerk:
aber ich hatte auch nicht direkt Hochverrat begangen.
    »Das war wirklich ein toller Schlag.«
    »Ich glaube nicht, dass die in nächster Zeit an kleinen Kindern herumknabbert.«
    Kolja grinste über diese Formulierung, doch das Grinsen währte nicht lange. Seine Worte riefen uns wieder das fahle Fleisch in Erinnerung, die bluttriefende Plastikplane. Wir lebten in einer Stadt, in der Hexen durch die Straßen streiften, Baba Jaga und ihre Schwestern, kleine Kinder stahlen und sie in Stücke hackten.
    Eine Sirene ertönte, dieses lang gezogene, verlorene Heulen, und schon bald stimmten alle Sirenen in der Stadt in ihren Aufschrei ein.
    »Da kommt der Fritz«, sagte Kolja, und wir beschleunigten unsere Schritte, zwangen unsere müden Glieder, schneller zu gehen. Wir konnten hören, wie die Granaten im Süden einschlugen, ein Klang wie ferne Paukenschläge, als die Deutschen mit ihrem nächtlichen Angriff auf die großen Kirow-Werke begannen, wo die Hälfte der Panzer und Flugzeug motoren und schweren Geschütze Russlands gebaut wurde. Die meisten Männer, die dort arbeiteten, waren inzwischen draußen an der Front, aber dafür standen nun Frauen an den Fräsen und Pressen, und der Betrieb geriet nie ins Stocken, immer brannte Kohle in den Schmelzöfen, immer stieg Rauch aus den roten Schornsteinen, nie wurde die Arbeit eingestellt, selbst dann nicht, wenn Bomben durch das Dach fielen, selbst dann nicht, wenn von den Fließbändern tote junge Frauen weggetragen werden mussten, die kalten Hände noch um ihr Werkzeug geklammert.
    Wir hasteten an den eleganten alten Wohngebäuden des Sagorodny-Prospekts mit ihren weißen Steinfassaden vorbei, wo Satyrköpfe mit Widderhörnern von den Ziergiebeln auf uns herabgrinsten, gemeißelt noch zu Zarenzeiten. Bestimmt hatte jedes dieser Häuser einen Luftschutzraum im Keller, wo sich die Bewohner zusammenkauerten, zu Dutzenden um eine einzelne flackernde Lampe gedrängt, und auf die Entwarnung warteten. Die Granaten schlugen nun so nahe ein, dass wir sie durch die Luft zischen hören konnten. Der Wind war lauter, fuhr kreischend durch die zerborstenen Fenster verlassener Wohnungen, als hätten sich Gott und die Deutschen verschworen, unsere Stadt auszulöschen.
    »An der Front lernt man schnell abzuschätzen, wo die Granaten landen werden«, sagte Kolja, die Hände in den Taschen seines Militärmantels vergraben, während er sich gegen den Wind stemmte, der eben noch von hinten gekommen war. »Du hörst genau hin und weißt: Die fällt hundert Meter weiter links; die fällt in den Fluss.«
    »Ich kann auf Anhieb eine Junkers von einer Heinkel unterscheiden.«
    »Das will ich doch hoffen. Eine Junkers klingt wie ein Löwe, und eine Heinkel ist ein Moskito .«
    »Na schön, dann eine Heinkel von einer Dornier. Ich war der Kommandant der Brandwache auf dem ...«
    Kolja brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er blieb stehen, und so blieb auch ich stehen.
    »Hörst du das?«
    Ich lauschte. Ich konnte nur den Winterwind hören, der aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien, über dem Finnischen Meerbusen seine Kräfte sammelte und heulend durch alle Nebenstraßen fuhr. Ich dachte, Kolja höre eine Granate auf uns zukommen, und blickte himmelwärts, wie um den Tod zu erspähen, der auf uns zuschoss, wie um ihm auszuweichen, falls ich ihn entdeckte. Der Wind ließ endlich nach, keuchte nun lei ser, ein Kind am Ende eines Wut anfalls. Im Süden explodierten Granaten, dem Geräusch nach mehrere Kilometer weit weg, aber nahe genug, um das Pflaster unter unseren Füßen erbeben zu lassen. Doch Kolja horchte weder auf den Wind noch auf die Geschütze. Irgendjemand spielte in dem alten Gebäude Klavier. Ich konnte keinerlei Licht hinter den Fenstern sehen, keine brennenden Kerzen oder Lampen. Die anderen Bewohner mussten in den Luftschutzkeller gegangen sein (sofern sie vom Hunger nicht zu geschwächt oder zu alt waren, um sich die Mühe zu machen), und nur dieses verirrte Genie war zurückgeblieben, das im Dunkeln Klavier spielte, unverfroren und präzise, mit donnernden doppelten Fortissimi protzte, auf die umgehend kleine Pianissimi folgten, als hätte der Pianist Streit mit sich selbst, wäre tyrannischer Ehemann und unterwürfige Ehefrau zugleich.
    Klassische Musik war ein wichtiger Teil meiner Kindheit, ob im Radio oder in Konzertsälen. Meine Eltern waren fa natische Musikliebhaber; wir waren eine Familie, die kein Talent zum Spielen hatte, aber sehr stolz war auf ihre

Weitere Kostenlose Bücher