DavBen-StaderDie
geschossen, was sie einen Moment lang gesünder aussehen ließ.
»Sie haben gesagt, du seist tot!«
»Noch nicht«, sagte Kolja. »Das ist mein Freund Lew. Er will mir weder seinen Vatersnamen noch seinen Familiennamen verraten, aber vielleicht hast du mehr Glück. Ich habe das dunkle Gefühl, dass du sein Typ bist. Lew, das ist Sonja Iwanowna. Eine meiner ersten Eroberungen und noch immer eine liebe Freundin.«
»Ha! Ziemlich kurzlebige Eroberung, stimmt's? Á la Napoleon in Moskau?«
Kolja grinste mich an. Er hatte noch immer den Arm um Sonja gelegt, drückte sie fest an sich. Sie hatte sich in einen Männermantel und drei oder vier Pullover eingemummt, aber trotz der voluminösen Kleidung merkte ich, dass nicht mehr viel an ihr dran war.
»Das war eine klassische Verführung. Ich hab sie in einem Kunstgeschichteseminar kennengelernt. Hab sie mit allen Perversionen der großen Meister bekannt gemacht, von Michelangelos Knaben bis hin zu Malewitschs Füßen - hast du das gewusst? Er pflegte morgens die Füße seiner Haushälterin zu zeichnen und sich abends über den Bildern einen runterzuholen.«
»Alles gelogen. Außer ihm hat kein Mensch auf der Welt je davon gehört«, teilte sie mir vertraulich mit.
»Sie hat sich alles über diese lüsternen Maler angeeignet, sich daran aufgegeilt, dazu ein paar Wodka, das war alles. Ich kam, sah und siegte.«
Sie beugte sich dichter zu mir, berührte den Ärmel meines Mantels und flüsterte mir weithin hörbar zu: »Gekommen ist er jedenfalls. Das muss ich ihm lassen.«
Ich war es nicht gewohnt, Frauen über Sex reden zu hören. Die Jungs, die ich kannte, fanden bei dem Thema nie ein Ende, obwohl keiner von ihnen eine große Autorität auf diesem Gebiet zu sein schien, doch die Mädchen sparten sich derartige Gespräche für ihre eigene allerengste Clique auf. Ich fragte mich, ob Grischa schon mit Vera geschlafen hatte, bevor mir einfiel, dass Grischa und Vera tot waren, begraben unter Gedenksteinen aus zerborstenem Beton.
Sonja sah meinen kläglichen Gesichtsausdruck und nahm an, dass die anzügliche Unterhaltung mich verwirrt hatte. Sie lächelte mich herzerwärmend an, ließ das halbmondförmige Grübchen aufblitzen.
»Mach dir nichts draus, Schätzchen. Keiner von uns ist auch nur annähernd so bohemienhaft, wie wir uns einbilden.« Sie wandte sich an Kolja. »Er ist süß. Wo hast du ihn gefunden?«
»Er hat im Kirow gewohnt. Drüben in der Woinowa.«
»Im Kirow? In dem Haus, das gestern Nacht zerstört wurde? Das tut mir so leid, Süßer.«
Sie nahm mich in die Arme. Es war, als würde man von einer Vogelscheuche umarmt. Ich konnte überhaupt keinen Körper unter der Kleidung fühlen, nur schichtenweise verräucherte Wolle. Trotzdem war es ein schönes Gefühl, von einer Frau Anteilnahme bezeigt zu bekommen. Selbst wenn es nur aus Höflichkeit geschah, war es trotzdem ein schönes Gefühl.
»Komm«, sagte sie und nahm meine Hand, Lederhandschuh an Lederhandschuh. »Das ist jetzt dein Zuhause. Wenn du einen Platz zum Schlafen brauchst, ob für eine Nacht oder eine Woche, dann schläfst du von nun an hier. Morgen kannst du mir helfen, Wasser aus der Newa heraufzubringen.«
»Morgen haben wir etwas zu erledigen«, sagte Kolja, doch sie nahm keine Notiz von ihm, sondern führte uns ins Wohnzimmer. Sechs Personen saßen im Halbkreis um einen Holzofen herum. Sie sahen aus wie Studenten, die Männer noch mit auffallenden Koteletten und Oberlippenbärten, die Frauen mit kurz geschnittenem Haar und Zigeunerohrringen. Alle teilten sich mehrere dicke Wolldecken, nippten an Teetassen und betrachteten uns Neuankömmlinge, ohne uns mit einem Wort willkommen zu heißen. Ich verstand ihren Mangel an Begeisterung. Fremde waren bestenfalls ein Ärgernis und schlimmstenfalls tödlich - selbst wenn sie nichts Böses im Schilde führten, so wollten sie doch immer etwas zu essen.
Sonja stellte uns alle vor, nannte die Namen der im Kreis Sitzenden, doch keiner von ihnen sagte etwas, bis Kolja sie für sich einnahm, indem er seinen Bücherei-Lebkuchen auswickelte und ihn herumgehen ließ. Es war alles andere als ein Vergnügen, auf dem Zeug herumzukauen, aber es war etwas Essbares, etwas, um den Blutkreislauf anzuregen, und so kam die Unterhaltung bald wieder in Gang.
Sonjas Freunde waren keine Studenten, wie sich herausstellte, sondern Chirurgen und Krankenschwestern. Sie hatten gerade einen vierundzwanzigstündigen Arbeitstag hinter sich, hatten Arme und Beine amputiert,
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