DavBen-StaderDie
Schnee brach unter meinen Stiefeln, und falls ein deutscher Scharfschütze meinen Kopf im Visier hatte, so wünschte ich ihm, dass er nicht danebenschoss. Ich war hungrig, aber ich wusste, wie ich mit meinem Hunger fertig wurde; wir alle waren inzwischen Experten darin, mit dem Hunger fertig zu werden. Die Kälte war brutal, aber auch an die Kälte war ich gewöhnt. Doch meine Beine versagten ihren Dienst. Vor dem Krieg waren sie schwach, eigneten sich nicht sonderlich zum Laufen und Springen und all dem, wozu Beine sonst noch da sind. Die Belagerung hatte sie zu Besenstielen verkümmern lassen. Selbst wenn wir auf dem richtigen Weg nach Mga gewesen wären, hätte ich es nie und nimmer geschafft. Ich hätte keine fünf Minuten länger gehen können.
Auf halber Strecke zum Bauernhaus holte mich Kolja ein. Er hatte die Tokarew-Pistole in der behandschuhten Hand.
»Wenn wir das schon machen«, sagte er, »dann müssen wir uns dabei nicht auch noch dumm anstellen.«
Er führte mich hinter das Haus und hieß mich unter dem Vordach der rückwärtigen Veranda warten, wo das Brennholz sicher und trocken aufgest apelt war. Eine Dreikilodose Be luga-Kaviar hätte in diesem Moment keinen größeren Luxus dargestellt als dieses sorgfältig aufgestapelte Brennholz, das kreuzweise angeordnet war und über meinen Kopf reichte.
Kolja schlich sich an ein mit Reif überzogenes Fenster und spähte hinein, sodass das schwarze Fell seiner Astrachanmütze im Feuerschein glänzte. Drinnen lief ein Grammofon - ein Klavier spielte Jazz, etwas Amerikanisches.
»Siehst du jemand?«, flüsterte ich. Er hielt die Hand hoch, damit ich schwieg. Er schien wie gebannt von dem, was er sah, und ich fragte mich, ob wir mitten in der verschneiten Landschaft erneut auf Kannibalen gestoßen waren oder, was wahrscheinlicher war, auf die verstümmelten Überreste der Familie, die einst hier gelebt hatte.
Aber Kolja war schon früher mit Kannibalen fertig geworden, und er hatte schon jede Menge Leichen gesehen. Das hier war etwas Neues, etwas Unerwartetes, und nach weiteren dreißig Sekunden setzte ich mich über seine Anweisung hinweg und schlich mich zu ihm ans Fenster, achtete darauf, keinen der davorhängenden Eiszapfen abzubrechen. Ich duckte mich neben ihm hin und spähte durch die Scheibe.
Zwei Mädchen in Nachthemden tanzten zu einer Jazzschallplatte. Sie waren sehr hübsch und jung, nicht älter als ich, und die Blonde führte die Brünette. Sie war sehr blass, ihr Hals und ihre Wangen waren mit Sommersprossen übersät, ihre Augenbrauen und Augenli der so hell, dass sie verschwan den, wenn man sie von der Seite sah. Das dunkelhaarige Mädchen war kleiner, unbeholfen, konnte dem synkopischen Rhythmus nicht folgen. Ihre Zähne waren zu groß für ihren Mund, und ihre Arme waren drall, mit Speckfältchen an den Handgelenken wie bei einem Baby. In Friedenszeiten wäre sie dir nicht weiter aufgefallen, wenn sie den Newski-Prospekt hinuntergeschlendert wäre, aber jetzt hatte ein pummeliges Mädchen etwas unglaublich Exotisches. Jemand, der Macht hatte, liebte sie und ernährte sie gut.
Ich war von dem Anblick der tanzenden Mädchen so verblüfft, dass ich im ersten Moment gar nicht bemerkte, dass sie nicht allein waren. Zwei weitere Mädchen lagen auf einem schwarzen Bärenfell vor dem offenen Kamin auf dem Bauch. Beide hatten das Kinn in die Hände gestützt, die Ellbogen auf dem Fell, und sahen mit ernster Miene den Tanzenden zu. Die eine schien Tschetschenin zu sein, hatte schwarze Augenbrauen, die über der Nase fast zusammenwuchsen, die Lippen grellrot geschminkt, die Haare oben auf dem Kopf in ein nasses Handtuch gewickelt, als hätte sie gerade gebadet. Das andere Mädchen hatte den langen, eleganten Hals einer Ballerina, eine Nase, die im Profil einen perfekten rechten Winkel bildete, und braune Haare, die zu festen Zöpfen geflochten waren.
Das Innere des Bauernhauses sah eher aus wie eine Jagdhütte. Die Köpfe toter Tiere schmückten die Wände des großen Raumes: Braunbären, Keiler, ein Steinbock mit weit zurückgebogenen wulstigen Hörnern und schmuddeligem Kinnbart. Zwei ausgestopfte Tiere, ein Wolf und ein Luchs, flankierten den offenen Kamin, beide in Schleichhaltung, mit offenem Maul und weiß schimmernden Fängen. In Wandleuchtern brannten Kerzen.
Kolja und ich kauerten vor dem Fenster und starrten auf dieses Bild, bis die Musik endete und das tschetschenisch aussehende Mädchen aufstand, um eine andere Platte auf
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