Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dave Duncan

Dave Duncan

Titel: Dave Duncan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Vom Netzwerk:
getan hätte, wenn Sie wirklich nackt gewesen wären. Zum einen tränten ihre Augen so stark, daß sie Sie nicht genau sehen konnte. Zum anderen umgab Sie ein weißer Regenbogen, ein strahlender Heiligenschein, unaufhörlich fließend, eine brandende, schillernde Woge. Darin glaubte sie einen weiblichen Körper von unglaublicher Schönheit und Anmut zu erkennen, der Leidenschaft; und Zuneigung ausstrahlte –
    Dann zeigte er plötzlich männliche Stärke und Kraft und eine entsetzliche Wut, und Inos war glücklich, daß sie nicht an Mutter Unoninis Stelle war. Inos konnte spüren, wie die Kaplanin an ihrer Seite zitterte, als der göttliche Zorn über ihr zusammenschlug.
    Ihre Augen taten so weh, daß sie sie schnell schloß und ihren Kopf wieder senkte. Es war, als habe sie versucht, die Felsen im Meer der Gezeiten zu betrachten, während die Sonne auf die Wellen schien, doch diese Wellen waren Wellen von Schönheit und Stärke und Männlichkeit und Weiblichkeit und Liebe und Herrlichkeit – und jetzt Wut. Doch inmitten der unerträglich hellen Herrlichkeit glaubte sie, etwas Vertrautes gesehen zu haben. Vielleicht ihre Mutter? Könnte es das Gesicht ihrer Mutter gewesen sein, in Ihrem kalt brennenden Strahlen? Sie war jetzt nicht mehr ganz so ängstlich. Vielleicht war der Gott wohlmeinend und konnte nichts dagegen tun, daß er so furchterregend aussah.
    »Unonini«, polterte die Stimme, und irgendwie klang sie jetzt männlich, obwohl sich die Tonlage nicht geändert hatte, »was stimmt nicht mit der Decke auf diesem Tisch?«
    Die Kaplanin winselte. »Nichts, Gott.«
    »Wo liegt also das Gute und wo das Böse, wenn Ihr ein Mädchen einschüchtert, etwas zu opfern, was es nicht besitzt und nicht opfern möchte?«
    Die Kaplanin wimmerte lauter. »Gott, ich hatte unrecht! Es war mehr böse als gut.«
    »Seid Ihr sicher? Auch Götter können irren, denkt daran!«
»Ich bin sicher, Gott. Ich war boshaft.«
»Sehr gut«, sagten Sie mit sanfterer Stimme. »Bereut!«
    Die Wut schwand dahin und wurde von einem Gefühl ersetzt, das Inos Herz so stark berührte, daß sie am liebsten gleichzeitig geweint und gelacht hätte. Nach einem Moment des Schweigens hörte man von der zusammengekauerten Unonini einige sehr eigenartige Geräusche, die Inos schließlich als Schluchzen definierte.
    Dann sprach wieder der Gott, und dieses Mal war die Stimme weicher, weiblicher. »Inosolan?«
     
    Jetzt war sie an der Reihe, und sie war auf der Seite des Bösen gewesen. »Ja, Gott?« flüsterte sie.
     
    »Du wirst dir ein wenig mehr Mühe geben, nicht wahr?«
     
    Inos hörte Zähneklappern und ihr wurde klar, daß es ihre eigenen waren. »Ich werde die Seide zurückgeben, Gott.«
     
    »Das ist nicht nötig.«
     
    Sie sah erstaunt auf und schloß sofort ihre Augen wieder aus plötzlicher Todesangst. »Ihr meint, Vater wird sie mir kaufen?«
    Der Gott lachte. Es war gleichzeitig ein leises Lachen und eine ehrfurchtgebietende Explosion unbändigen, unsterblichen Vergnügens. Es hätte ohrenbetäubend in der winzigen Kapelle widerhallen müssen, doch nichts dergleichen geschah. »Diese und viele weitere. Wir sagen nicht, daß du sie verdienst. Wir machen nur eine Prophezeiung. Dir stehen schwere Zeiten bevor, Inosolan, aber es wird ein gutes Ende nehmen, wenn du dich für das Gute entscheidest.«
    »Was muß ich tun, Gott?« Sie wunderte sich sehr, als sie merkte, daß sie Sie befragte.
    »Trachte danach, das Gute zu finden«, sagten Sie, »und vor allem, denke an die Liebe! Wenn du nicht auf die Liebe vertraust, wird alles verloren sein.«
    Dann waren Sie fort. Ohne eine Antwort abzuwarten oder einen Dank, ohne ein Gebet oder eine Lobpreisung, weder Anbetung noch Ritual zu verlangen, war der Gott verschwunden.

5
    Mutter Unonini hatte ein lautes Wimmern ausgestoßen und sich der Länge nach auf den Boden geworfen.
Inos dachte eine Weile über diese Prozedur nach, beschloß dann jedoch, sie sei nicht angebracht. Außerdem schien die Kaplanin ihr Gespräch nicht fortführen zu wollen. Wenn man es sich recht überlegte, war die nach Fisch riechende alte Unonini auf die göttlichste Art und Weise zurechtgewiesen worden. Der Gott war erschienen, um Inos vor Mutter Unoninis Boshaftigkeit zu erretten.
    Inos verspürte angenehme Ruhe, erhob sich, trat aus der Kapelle und blinzelte in das helle Sonnenlicht, das gegen den Glanz eines Gottes verblaßte. Sie hatte einen Gott gesehen! Die meisten Menschen verbrachten ihr ganzes Leben, ohne daß ihnen

Weitere Kostenlose Bücher