Dave Duncan
Tauben und Möwen stoben in den Himmel, während die gelbe Katze, die sich an sie herangepirscht hatte, über eine Mauer floh. Inos bog um eine Ecke und sah vor sich die offene Tür zur Schloßkapelle. Sie tauchte hinein und suchte Zuflucht in der Religion. Wäre sie im Haus der Götter vor einem Zauberer sicher?
Im kühlen dunklen Inneren kam sie schlitternd zum Stehen, der Donner ihres Herzens, der in ihrem Kopf zu wüten schien, war ohrenbetäubend. Die Kapelle war ein kleiner Raum, der mit seinen alten Kiefernbänken nur Platz für zwanzig oder dreißig Menschen bot. Die Mauern waren außerordentlich dick, und man sagte, die Kapelle sei sogar älter als der Rest des Schlosses. An einem Ende stand der Opfertisch vor den beiden heiligen Fenstern, das eine hell, das andere schwarz und undurchsichtig, und auf dem Tisch stand die heilige Waage, deren Schalen aus Blei und Gold den Kampf zwischen Gut und Böse symbolisierten. Die Luft war feuchtkalt und roch moderig.
Inos eilte vor zum Tisch und wollte gerade auf die Knie fallen, als hinter ihr eine trockene Stimme sprach.
»Nun!« sagte die Stimme. »Verspüren wir plötzlich Reue?« Inos schrie schrill auf und sprang hoch.
Mutter Unonini saß mit verschränkten Armen steif in der ersten Kirchenbank. Die Kaplanin des Schlosses war eine dunkle, grimmige Frau, die sehr groß wirkte, wenn sie saß. Mit ihrem dunkelhäutigen Gesicht, dem schwarzen Haar und der schwarzen Robe war sie im Dämmerlicht kaum zu erkennen, nur ein deutliches Schimmern der Befriedigung glomm in ihren Augen auf. »Welchem Umstand verdanken die Götter das Vergnügen Eures Besuches, meine Liebe?«
»Im Schloß ist ein Zauberer!«
»Ein Zauberer? Wie ungewöhnlich!«
»Wirklich!«
»Dann kommt her, setzt Euch zu mir und erzählt mir davon«, sagte die Kaplanin. »Wir können nicht zulassen, daß Ihr in diesem Zustand irgendwelche zufälligen Gebete sprecht, Ihr könntet genau die falschen Götter anrufen. Für ein Gebet sind lange Meditation und das rechte Denken wichtige Voraussetzungen.«
Widerwillig ging Inos zu ihr hin und setzte sich, immer noch zitternd, neben sie. Sofort befand sich ihr Kopf nicht mehr auf gleicher Höhe mit dem der Kaplanin, zumindest aber berührten ihre Füße noch den Boden. Die Kaplanin hatte es Inos nie vergeben, daß sie beim letzten Winterfest ihren watschelnden Gang imitiert hatte, obwohl der König seine ungeratene Tochter anschließend angewiesen hatte, sich öffentlich dafür zu entschuldigen. Auch Inos Anwesenheitsliste in der Sonntagsschule konnte hier nicht viel helfen.
»Was habt Ihr da in der Hand? Laßt mich mal sehen.« Unonini nahm die Seide, breitete sie aus und hielt sie ins Licht. »Nun! Habt Ihr dies vielleicht als Opfer hergebracht?«
»Äh… nein.«
»Der Tisch könnte bestimmt eine neue Decke gebrauchen. Der Stoff hier ist sehr hübsch. Woher habt Ihr ihn?«
»Er ist mein Geburtstagsgeschenk von Vater…« Inos’ Stimme verlor sich. »Weiß er davon?«
»Also… äh, noch nicht.« Inos drehte sich um, um sich zu vergewissern, daß der Zauberer nicht in der Tür stand. Sie hatte jetzt das Gefühl, in der Falle zu sitzen, in diesem dunklen kleinen Raum mit der unfreundlichen Mutter Unonini und dem möglicherweise draußen lauernden Zauberer.
»Vielleicht solltet Ihr besser am Anfang beginnen.«
Inos ließ ihren Kopf hängen und begann am Anfang. Sie atmete wieder ruhiger, und ihr Herz schlug langsamer. So wenig sie Mutter Unonini leiden konnte – die an diesem Tag stark nach Fisch roch – so sollte eine Kaplanin doch zumindest wissen, was zu tun war, falls dieser entsetzliche Zauberer Sagorn ihr folgte. Als sie fertig war, blieb es still.
»Ich verstehe.« Mutter Unonini klang, als sei sie gegen ihren Willen beeindruckt. »Nun, hören wir uns Eure Interpretation dieser merkwürdigen Ereignisse an.«
»Was?«
»Sagt nicht >was<. Das ist nicht damenhaft. Ihr wißt, was ich meine. Alle Dinge und Taten sind sowohl gut als auch böse, Kind. Wir müssen versuchen, in ihrem ewigen Widerstreit auf der richtigen Seite zu stehen. Es ist unsere Pflicht, immer das Gute zu wählen oder zumindest das Bessere. Beginnen wir mit dem Zauberer, falls er wirklich einer ist. Ist er böse oder ist er gut?«
»Ich… ich weiß es nicht. Wenn er ein Freund von Vater ist… Vielleicht hat er Vater ermordet?«
»Das glaube ich kaum. Zieht keine voreiligen Schlüsse! Seine Majestät ist vielleicht zurückgeblieben, um die Tür zu schließen. Er sähe es
Weitere Kostenlose Bücher