Dave Duncan
sicher nicht gerne, wenn unbefugte Herumtreiber in Inissos Zimmer herumlungerten.«
»Ihr wißt von dem Zimmer?«
»Natürlich!«
»Ihr habt es gesehen?«
»Nein«, gab Unonini mit einem leichten Anflug von Ärger zu. »Aber ich konnte mir vorstellen, daß es dort war. Inisso war ein großer Zauberer – ein guter, natürlich – also hatte er sicher einen Ort der Macht ganz oben in seinem Turm. Dort oben mag es immer noch viele geheimnisvolle Dinge geben, Dinge, die eine junge neugierige Dame nichts angehen.«
Inos kam zu dem Schluß, daß die alte Hexe vermutlich recht hatte. Sie hatte nicht das Gute gewählt, als sie dort herumschnüffelte oder das Gespräch belauschte. Vielleicht hatte sie also auf der falschen Seite des ewigen Streites gestanden. In diesem Fall war der Zauberer womöglich ein guter Zauberer, und seine Wut war gegen die Niedertracht in ihr gerichtet gewesen. Der Gedanke, sie könnte auf der Seite des Bösen stehen, war bestürzend, und plötzlich wollte sie weinen. Am liebsten an der Schulter eines anderen, aber sicher nicht an der Mutter Unoninis.
»Diese Seide…«, bemerkte Mutter Unonini. »Laßt uns darüber sprechen. Erzählt mir, wieviel Gutes und Böses in dieser Seide liegt.« Inos unterdrückte ein Schniefen und sagte: »Ich hätte sie nicht mitnehmen sollen, bis ich sie bezahlen konnte.«
»Das ist richtig, Kind. Weiter.«
»Oder zumindest bis Vater eingewilligt hätte, sie für mich zukaufen.« »Sehr gut! Was müßt Ihr also jetzt tun?«
»Sie zurückbringen?« Inos fragte sich, ob es sich so anfühlte, wenn ein Herz brach.
»Oh, ich glaube, dafür ist es zu spät.« Mutter Unonini seufzte spottend.
Sie wippte mit den Füßen. »Mistress Meolorne hat das Geld, das Ihr ihr versprochen habt, vielleicht schon verplant.«
In Inos flackerte Hoffnung auf wie das Licht in einem Fenster. »Ich kann ihn behalten?« Dann sah sie den Blick in Mutter Unoninis Augen, und das Licht des Guten wurde zur Dunkelheit des Bösen. »Nein?«
»Wir dürfen aus bösen Taten keinen Vorteil ziehen, Inosolan. Nicht wahr?«
Inos nickte.
»Was müßt Ihr also tun?«
Inos versuchte, sich einen angemessenen Satz auszudenken. »Das höchste Gute finden?«
Die ältere Frau nickte befriedigt. »Nun, wie ich schon sagte, der Opfertisch könnte eine neue Decke gebrauchen–«
»Schüchtert das Kind nicht ein!« sagte eine Stimme mit der metallischen Autorität einer Fanfare.
Vor dem Opfertisch stand ein Gott, eine Gestalt so gleißend, daß man sie kaum ansehen konnte, obwohl sie kein Licht auf den Rest des Raumes warf.
Inos und Mutter Unonini schnappten gleichzeitig nach Luft, fielen auf die Knie und senkten ihre Köpfe.
Vielleicht war Sagorn ein Zauberer, dachte Inos, vielleicht aber auch nicht; doch das hier war ganz sicher ein echter Gott. Ihr ganzes Entsetzen kam zehnfach zurück, und sie wünschte, sie könnte im Boden versinken.
»Unonini«, sagte die schreckliche Stimme – irgendwie klang sie wie Donner, und dennoch war sie weder laut noch hallend, »was wißt Ihr über diesen Sagorn?«
Mutter Unonini räusperte sich und krächzte: »Seine Majestät hat mich informiert, daß er kommt. Daß er ein großer Gelehrter ist…« Sie hielt inne. »Weiter!«
»Daß er ein alter Freund Seiner Majestät ist. Sie sind in ihrer Jugend zusammen gereist.«
Es folgte gespannte Stille. Die dunkle und eisige Kapelle hätte durch das göttliche Feuer heiß und hell sein müssen, doch dem war nicht so. Die Steine unter Inos Knien waren kalt, sandig und rochen nach Staub.
»So?« fragte der Gott mit einer Stimme, die draußen wohl nicht gehört werden konnte und dennoch hätte Berge erschüttern können. Mutter Unonini antwortete offensichtlich widerstrebend. »Ich glaube also nicht, daß er böse ist oder ein Zauberer. Ich… ich hätte ihr das sagen sollen, sie aufmuntern.«
»Ja, das hättet Ihr tun sollen!«
Inos hatte ihr Gesicht mit den Händen verdeckt. Jetzt öffnete sie ihre Finger ein ganz klein wenig und spähte durch sie hindurch. Sie konnte die Zehen des Gottes sehen. Sie glänzten so hell, daß ihre Augen schmerzten, dennoch war der Boden unter ihnen dunkel. Wagemutig warf sie einen Blick auf seine ganze Herrlichkeit.
Er… es… sie. Nein, Sie alle, erinnerte sie sich. Götter waren immer »Sie; die Götter.« Sie hatten eine weibliche Gestalt, oder zumindest schien es so. Sie schienen keine Kleider zu tragen, aber Inos spürte weder Entsetzen noch Scham, wie sie es
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