Dave Duncan
diesen Hosen und einer riesigen Pelzjacke… ohne Kopfbedeckung, dünnes weißes Haar vom Wind zerzaust, Wangen so glühend rot wie Äpfel und blaue Augen, die vor Fröhlichkeit leuchteten.
»Inos, mein Liebes! Ich bin ja so glücklich, dich wieder auf den Beinen zu sehen.«
Inos, die sich entsetzt über die konturenlose Wasserwüste umblickte, war sprachlos.
»Du brauchst eine Jacke, Liebes«, sagte ihre Tante. »Der Wind ist recht frisch.«
Frisch? Er war schneidend.
Kade strahlte ermutigend. »Wir liegen exzellent in der Zeit – North Claw in vier Tagen, sagt der Kapitän voraus. Die Luft wird wärmer, wenn wir Westerwater erreichen.«
Inos Zähne begannen zu klappern. »Ich glaube, ich brauche ein Frühstück.« Sie schlang ihre Arme um sich. »Vielleicht haben sie unten etwas in der Küche?«
»Kombüse, Liebes. Ja. Du mußt natürlich halb verhungert sein. Laß uns nach unten gehen und mal nachsehen.«
»Du brauchst nicht mitzukommen, wenn es dir hier gefällt.« »Natürlich muß ich mitkommen.«
»Natürlich?«
Tante Kade setzte ihr bestes Gouvernantengesicht auf. »Wir sind hier nicht mehr in Krasnegar, Inosolan. Ich bin deine Anstandsdame, und ich muß mich um dich kümmern.«
Ein schrecklicher Verdacht stieg in Inos auf. »Du meinst, daß du mich von jetzt an nicht mehr aus den Augen läßt?«
»So ist es, Liebes. Jetzt laß uns sehen, ob wir etwas zum Frühstück finden.«
Das Schiff segelte weiter, aber Inos Herz sank… bis auf den Grund des Wintermeeres.
Es gab noch schlimmere Dinge als Seekrankheit.
Southward dreams:
The hills look over on the South,
And Southward dreams the sea;
And with the sea-breeze hand in hand,
Came innocence and she.
Francis Thompson, Daisy
(Träume vom Süden:
Die Hügel blicken hinaus in den Süden
und Träume vom Süden erfüllen die See
Und mit der Brise vom Meer Hand in Hand
kam die Unschuld und kam sie.)
Drei
Der Ruf der See
1
»Warum passiert denn nichts?« drängelte Inos flüsternd.
»Warum sollte etwas passieren?« fragte Tante Kade zurück.
Inos knirschte leise mit den Zähnen und starrte haßerfüllt auf ihre Stickerei. Sie saßen auf einer Wiese in dem Wäldchen bei Kinvale mit vielen anderen vornehmen Damen, die alle nähten oder häkelten oder einfach nur im hellen Sonnenlicht ein Schwätzchen hielten. Es war ein Nachmittag im Spätsommer und nichts passierte. Niemals, so schien es, passierte je etwas in Kinvale. Es sollte nichts passieren – das war es.
»Außerdem«, fuhr ihre Tante ruhig fort, »ist gestern abend etwas geschehen. Du hast deine Brosche verloren.«
Das war die niederschmetternde und unwillkommene Wahrheit und ein ungewöhnlich scharfer Tadel von Tante Kade. Inos setzte alles daran, sich unmöglich zu benehmen, doch ihr Vergnügen, die stetige gute Laune ihrer Tante angekratzt zu haben, wurde in diesem Augenblick durch die Erinnerung an ihre eigene Dummheit zerstört. Ein heißgeliebtes Erbstück zu verlieren war nichts im Vergleich dazu, sich zum Beispiel einen Zahn schwarz anzumalen und beim Essen breit zu lächeln.
Stickerei war in Tante Kades Augen zu kompliziert. Sie strickte deshalb irgendein nutzloses Teil, das unzweifelhaft einer Bediensteten geschenkt würde, wenn es fertig war. Der Vorgang war wichtig, nicht das Ergebnis. Inos war schrecklich ungeschickt beim Stricken eines Sträußchenmusters in die Ecke eines Leinentuches und durchlitt schlimme Qualen der Frustration und Langeweile. Seit einem Monat war sie in Kinvale und würde noch weitere neun oder zehn Monate dort bleiben, und niemals geschah etwas.
Von einigen Dingen natürlich abgesehen, die sie selbst in Gang gebracht hatte.
Sie konnte zwar bestätigen, daß Kinvale wunderschön war – eine großartige Ansiedlung inmitten sanfter Hügel, die so üppig und reich bewachsen waren, wie sie es sich nie hatte vorstellen können. Es lag nordöstlich vom Pamdo Golf, nahe dem großen Hafen von Shaldokan – von dem sie noch nichts zu sehen bekommen hatte – jedoch weit genug vom Meer entfernt, daß es noch niemals von den Räubern der Jotunn überfallen worden war, selbst in den schlimmsten Zeiten voller Chaos nicht, als das Impire schwach war. Sie hatte wenig von den kleineren Gutshöfen und Weilern in der Umgebung gesehen, aber genug, um zu wissen, daß sie alt und ernsthaft und langweilig waren. Die nahegelegene Stadt Kinford hatte sie kurz besucht, doch sie war ebenso alt wie wohlhabend und – langweilig. Der
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