David und Goliath
hatte, war ihr klar, dass die Universität etwas anderes war als die Schule. Sie würde nicht mehr die Klassenbeste sein, und das hatte sie auch akzeptiert. »Mir war völlig klar, egal wie viel ich lernen würde, es würde immer Leute geben, die Sachen wissen, von denen ich noch nie gehört habe. Da habe ich mir gar nichts vorgemacht.« Doch was sie in Chemie erlebte, übertraf ihre schlimmsten Vorstellungen. Die Kursteilnehmer konkurrierten miteinander. »Ich hatte echte Probleme, mit den Leuten in diesen Kursen auch nur ein Wort zu wechseln«, erzählt sie. »Sie wollten mir nicht verraten, wie sie lernten. Sie wollten mir nicht helfen, den Stoff zu verstehen, denn damit hätte ich ja einen Vorteil gehabt.«
Im vierten Semester belegte sie eine Einführung in die Organische Chemie, und es wurde alles nur noch schlimmer. Sie schaffte es einfach nicht: »Man lernt auswendig, wie ein Konzept funktioniert, und dann bekommt man ein Molekül, das man noch nie gesehen hat, und soll daraus ein anderes Molekül machen, das man auch nicht kennt. Einige Leute haben das drauf und schaffen es in fünf Minuten. Aber diese Leute sind die Ausnahme. Die haben sich das mit unglaublich viel Arbeit draufgeschafft. Ich habe so viel gelernt und es einfach nie kapiert.« Wenn der Kursleiter eine Frage stellte, gingen um sie herum die Hände hoch und sie hörte sich schweigend die genialen Antworten der anderen an. »Ich hatte das Gefühl, dass ich einfach nicht dort hingehöre.«
Eines Nachts lernte sie für eine Prüfung in Organischer Chemie. Sie fühlte sich elend und war wütend. Sie hatte keine Lust, um drei Uhr morgens zu pauken, zumal die ganze Mühe nichts zu bringen schien. »In dem Moment wusste ich, dass es sinnlos ist, weiterzumachen«, erinnert sie sich. Sie hatte genug.
Das Tragische ist nur, dass Sacks eine Leidenschaft für Naturwissenschaften hatte. Wenn sie von ihren leidvollen Erfahrungen mit der Organischen Chemie erzählt, trauert sie um all die Kurse, die sie nicht mehr belegen konnte: Physiologie, Infektionskrankheiten, Biologie, Mathematik. Im Sommer nach dem vierten Semester quälte sie sich mit ihrer Entscheidung herum: »Als Kind war ich so stolz, sagen zu können: ›Ich bin sieben Jahre alt und ich liebe Käfer! Ich studiere sie, ich informiere mich über sie, ich zeichne sie in mein Skizzenbuch, ich benenne die verschiedenen Körperteile und spreche darüber, wo sie leben und was sie tun.‹ Und später habe ich gedacht: ›Ich interessiere mich so für Menschen und den menschlichen Körper, ist das nicht toll?‹ Ich war stolz darauf, dass ich mich als Mädchen für Naturwissenschaften interessiert habe, und ich habe mich geschämt, das aufzugeben und zu sagen, ›Naja, dann mache ich eben etwas Leichteres, weil ich das hier nicht packe.‹ Eine Zeit lang habe ich nur das gesehen und hatte das Gefühl, dass ich völlig versagt habe. Das war mein Ziel, und ich habe es einfach nicht geschafft.«
Aber war es denn so wichtig, wie Sacks in Organischer Chemie abschnitt? Das war schließlich gar nicht ihr Hauptfach. Es war nur einer von vielen Kursen. Viele Studierende scheitern an Organischer Chemie. Viele Medizinstudenten belegen das Fach in den Sommerferien an einer anderen Universität, nur um sich ein ganzes Semester lang darauf vorzubereiten. Dazu kommt, dass sie Organische Chemie an einer der anspruchsvollsten Universitäten der Welt belegte. Wenn man alle Studierenden im ganzen Land zusammennimmt, die Organische Chemie belegen müssen, dann gehörte Sacks vermutlich zu den Allerbesten. Das Problem war nur, dass sich Sacks nicht mit allen Studierenden des ganzen Landes messen musste. Sie verglich sich mit ihren Kommilitonen an der Brown University. Sie war ein kleiner Fisch in einem der tiefsten Teiche des Landes, und an diesem Vergleich mit all diesen genialen Studierenden erlitt ihr Selbstbewusstsein Schiffbruch. Sie fühlte sich dumm, auch wenn sie das gar nicht war. Wow, die anderen schaffen das, sogar Leute, die am Anfang genauso wenig Ahnung hatten wie ich, aber ich kapiere es einfach nicht.
5
Was Sacks da zu spüren bekam, ist ein starkes psychologisches Phänomen: der »relative Mangel«. Diesen Begriff prägte der Soziologe Samuel Stouffer während des Zweiten Weltkriegs, als er im Auftrag der US-Streitkräfte die Moral und die Einstellungen amerikanischer Soldaten untersuchte. Im Rahmen seiner Studie befragte er eine halbe Million Männer und Frauen, um zum Beispiel herauszufinden, wie
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