David und Goliath
Offenheit für Neues ins Spiel: Anfang der 1960er Jahre wussten nur wenige Unternehmen, was Outsourcing bedeutete. Doch es war nicht einfach, die nötigen Geschäftsbeziehungen aufzubauen. Polen war ein kommunistisches Land, es fehlte an der Infrastruktur, den Maschinen, den qualifizierten Arbeitskräften und der Rechtssicherheit, wie sie westliche Länder boten. Doch Kamprad landete einen Coup. »Er ist ein Mikromanager«, erklärt Anders Aslund, Fellow am Peterson Institute for International Economics. »Deshalb war er da erfolgreich, wo andere gescheitert sind. Er ist selbst in diese schwierigen Länder gereist, um ganz sicher zu sein, dass auch alles funktioniert. Er ist ein sturer Hund.« Das ist seine Gewissenhaftigkeit.
Das Auffälligste an Kamprads Entscheidung, nach Polen zu gehen, ist jedoch der Zeitpunkt. Im Jahr 1961 wurde die Berliner Mauer gebaut und der Kalte Krieg erreichte seinen Höhepunkt. Ein Jahr später, während der Kubakrise, standen Ost und West am Rande eines Atomkriegs. Das wäre ungefähr so, als würde Wal-Mart heute eine Filiale in Nordkorea eröffnen. Die meisten Menschen kämen nicht einmal auf den Gedanken, Geschäfte mit dem Feind zu machen, aus Furcht, als Verräter gebrandmarkt zu werden. Anders Kamprad. Was andere von ihm hielten, war ihm egal. Das ist die Unverträglichkeit. 54
Nur wenige Menschen verfügen über die Kreativität, die nötig ist, um Möbel in ihren Einzelteilen zu verkaufen und ihre Produktion angesichts eines Boykotts ins Ausland zu verlagern. Noch weniger Menschen haben die Disziplin, auf dieser Erkenntnis ein ganzes Möbelimperium zu errichten. Aber jemand, der nicht nur kreativ und gewissenhaft ist, sondern auch noch den Schneid hat, dem Kalten Krieg die Stirn zu bieten – das ist eine echte Seltenheit.
Legasthenie macht Menschen nicht unbedingt offener für Neues. Es macht sie auch nicht automatisch gewissenhafter. Doch diese Störung könnte es ein klein wenig leichter machen, unverträglich zu sein.
6
Gary Cohn wuchs in einem Vorort von Cleveland, Ohio, auf. Sein Vater war Bauelektriker. Das war in den 1970er Jahren, und damals wussten nur wenige Ärzte und Psychologen, was Legasthenie ist. In der Grundschule musste er eine Klasse wiederholen, weil er noch nicht lesen konnte. 55 Doch er erinnert sich: »In der Ehrenrunde war ich auch nicht besser.« Er hatte ein Problem mit der Disziplin. »Man könnte sagen, dass ich von der Grundschule geflogen bin«, erklärt er. »So was passiert halt, wenn man seine Lehrerin schlägt. Ich glaube, ich habe den Unterricht gestört. Aber die Lehrerin ist zu weit gegangen. Sie hat mich unter ihren Schreibtisch gesteckt, dann ist sie mit ihrem Stuhl an den Tisch gerollt und hat angefangen, mich zu treten. Da habe ich den Stuhl weggeschoben, ich habe ihr ins Gesicht geschlagen und bin rausgerannt. Das war in der vierten Klasse.«
Diese Phase nennt er »meine hässlichen Jahre«. Seine Eltern wussten nicht, was sie mit ihm machen sollten. »Es war die frustrierendste Zeitmeines Lebens, und das will was heißen.« Er fährt fort: »Es ist nicht so, als hätte ich mich nicht angestrengt. Ich habe mich echt bemüht, aber das hat niemand mitbekommen. Die haben wirklich gedacht, ich hätte mich bewusst dafür entschieden, ein ungezogenes Kind zu sein, das nichts lernen will und nur den Unterricht stört. Sie kennen das vielleicht, da ist man sechs, sieben oder acht Jahre alt, und alle halten einen für doof, also macht man komische Sachen, um ein bisschen Anerkennung zu bekommen. Man steht jeden Morgen auf und sagt sich, heute wird alles besser, aber wenn man das ein paar Jahre gemacht hat, stellt man irgendwann fest, dass heute auch nicht besser wird als gestern. Und man weiß, dass man kämpfen muss, um durchzukommen, und dass man kämpft, um noch einen Tag zu überleben, und dann schauen wir mal, was passiert.«
Seine Eltern schleppten ihn von einer Schule zur nächsten, in der Hoffnung, dass es etwas helfen würde. »Meine Mutter wollte nur, dass ich die High School abschließe«, erzählt Cohn. »Wenn Sie sie gefragt hätten, dann hätte sie wohl gesagt, der Tag, an dem er sein Zeugnis in der Hand hält, ist der schönste Tag meines Lebens. Dann kann er meinetwegen Lastwagenfahrer werden, aber er hat seinen Abschluss.« Als es schließlich so weit war, weinte seine Mutter hemmungslos. »Ich habe noch nie jemanden so weinen gesehen«, erinnert er sich.
Im Alter von 22 Jahren bekam Gary Cohn bei US Steel in
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