David und Goliath
bluten, können Sie nichts mehr essen. Dann können Sie nichts mehr trinken. Sie würgen und erbrechen sich. Das Blut im Stuhl verursacht Durchfall. Irgendwann verhungern Sie. Oder Sie bekommen eine Infektion oder Lungenentzündung, dann bekommen Sie Fieber, dann Krämpfe ...« Er schwieg.
Keiner der Ärzte hielt es lange in der Abteilung aus. Es war einfach zu viel. »Wir sind um sieben Uhr morgens gekommen und um neun Uhr abends nach Hause gegangen«, erinnert sich einer der Ärzte, die damals im zweiten Stock arbeiteten. »Wir mussten alles machen. Ich bin abends als psychisches Wrack heimgekommen. Damals habe ich angefangen, Briefmarken zu sammeln. Um 10 Uhr abends habe ich mich mit meinen Briefmarken hingesetzt. Das war meine einzige Möglichkeit, die Arbeit zu vergessen. Die Eltern hatten Angst. Niemand durfte ins Zimmer zu den Kindern. Sie haben neben der Tür gestanden. Niemand wollte da arbeiten. In einem Jahr sind mir siebzig Kinder weggestorben. Es war ein Alptraum.« 73
Nicht für Freireich. »Ich war nie deprimiert. Ich habe mich nie zu den Eltern gesetzt und geweint, weil ihr Kind stirbt.« Freireich tat sich mit einem Kollegen namens Tom Frei zusammen. Die beiden kamen zu dem Schluss, dass das Problem ein Mangel an Blutplättchen war, jenen unregelmäßig geformten Zellfragmenten, die im menschlichen Blut herumschwimmen. Die Leukämie sorgte dafür, dass der Körper der Kinder keine Blutplättchen mehr produzierte, doch ohne diese konnte das Blut nicht gerinnen. Es war ein revolutionärer Gedanke. Einer von Freireichs Vorgesetzten, eine internationale Koryphäe auf dem Gebiet der Hämatologie namens George Brecher, war skeptisch. Doch Freireich war der Ansicht, Brecher habe bei seiner Untersuchung die Blutplättchen nicht genau genug gezählt. Freireich war ein Pedant. Er verwendete eine bessere Methode, beobachtete kleinste Veränderungen in winzigsten Bereichen, und kam zu einem eindeutigen Schluss: Je weniger Blutplättchen, desto schlimmer die Blutungen. Die Kinder brauchten frische Blutplättchen, immer und immer wieder, in massiven Dosen.
Die Blutbank des Krebsforschungszentrums wollte Freireich kein Blut für Transfusionen zur Verfügung stellen. Freireich verstoße gegen die Regeln. Freireich schlug mit der Faust auf den Tisch und brüllte: Sie haben Menschen auf dem Gewissen! »Man muss ein bisschen vorsichtig sein, mit dem, was man sagt«, meinte Dick Silver, der damals mit Freireich im Krebsforschungszentrum arbeitete. »Aber Jay war das egal.«
Also organisierte Freireich seine eigenen Blutspender. Der Vater eines der Kinder war Priester und brachte zwanzig Gemeindemitglieder mit. Mitte der 1950er Jahre wurden Bluttransfusionen mit Stahlnadeln, Gummischläuchen und Glasflaschen durchgeführt. Doch an diesen Materialien blieben die Blutplättchen kleben. Also verwendete Freireich eine brandneue Technologie mit Silikonnadeln und Plastikflaschen. Die Flaschen wurden als »Würste« bezeichnet. »Die Dinger waren so groß«, erinnert sich Freireichs damaliger Kollege Vince DeVita, und breitet die Arme weit aus. »Und die Kinder waren so groß«, sagt er und breitet die Arme deutlich weniger weit aus. »Es war, alswürde man mit einem Feuerwehrschlauch Blumen gießen. Bei dem kleinsten Fehler hätten die Kinder einen Herzinfarkt bekommen. Der klinische Leiter war damals ein Typ namens Berlin. Als er die Würste gesehen hat, hat er zu Jay gesagt: ›Du spinnst.‹ Er hat ihm angedroht, ihn rauszuwerfen, wenn er mit den Transfusionen weitermacht.« Freireich ignorierte ihn einfach. »Sie kennen Jay«, erzählt DeVita weiter. »Wenn er die nicht hätte weitermachen können, dann hätte er sowieso gekündigt.«
Die Blutungen hörten auf.
7
Wo nahm Freireich nur seinen Mut her? Bei seiner imponierenden Gestalt kann man sich fast vorstellen, dass er schon mit geballten Fäusten aus dem Mutterleib gekommen ist. Aber MacCurdys Beschreibung der Überlebenden in London lässt eine andere Vermutung zu: Mut ist etwas, das man lernt.
Sehen wir uns an, was MacCurdy über die Erfahrung des »London Blitz« schrieb:
» Wir haben nicht nur Angst, wir haben auch Angst vor der Angst, und der Sieg über diese Angst erzeugt ein Gefühl der Freude ... Wenn wir Angst davor hatten, dass wir während eines Luftangriffs in Panik geraten könnten, und wenn wir während des Angriffs anderen gegenüber Ruhe demonstriert haben und nun sicher sind, dann schafft dieser Gegensatz zwischen den ursprünglichen
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