David und Goliath
Diese Kinder seien »zu konventionell, zu gehorsam und zu fantasielos, um mit einer revolutionären Idee Aufsehen zu erregen«. Weiter schreibt er: »Begabte Kinder entwickeln sich vor allem in einem positiven familiären Umfeld. Genies haben dagegen die perverse Neigung, unter widrigen Bedingungen aufzuwachsen.« 69
Das ist natürlich schwer zu schlucken. Es klingt ganz so, als wäre der Verlust eines Elternteils eine gute Sache. »Die Leute machen immer Witze und sagen zu mir: ›Sie meinen also, ich wäre besser dran, wenn ich keine Eltern hätte oder wenn ich meinen Vater umgebracht hätte‹«, sagt Eisenstadt. »Die Vorstellung, dass es manche Menschen ohne Eltern weiter bringen könnten, klingt bedrohlich, denn wir gehen für gewöhnlich davon aus, dass Eltern ihre Kinder fördern. Eltern sind ein ganz entscheidender Faktor im Leben.« Und das ist natürlich auch völlig richtig, wie Eisenstadt betont. Die Eltern sind tatsächlich entscheidend, und es gibt wenig, was so vernichtend auf ein Kind wirkt wie der Verlust des Vaters oder der Mutter. Der Psychiater Felix Brown stellte fest, dass der Anteil von Waisen oder Halbwaisen auch unter Gefängnisinsassen zwei- bis dreimal so hoch ist wie in der übrigen Bevölkerung. Bei einem derart deutlichen Unterschied kann es sich nicht um einen Zufall handeln. Ganz offensichtlich erleben viele den Verlust eines Elternteils als zutiefst traumatisierend. 70
Das Material, das Eisenstadt, Iremonger und andere zusammengetragen haben, lässt jedoch vermuten, dass der Tod eines Elternteils nicht notwendig zum Lebenstrauma wird. Ein Vater kann Selbstmord begehen und sein Sohn kann eine derart finstere Kindheit erleben, dass er sie im hintersten Kämmerchen seines Gedächtnisses vergräbt, doch schließlich kann auch diese Kindheit ihr Gutes haben. »Ich möchte den Verlust eines Elternteils und das daraus resultierende Leid auf gar keinen Fall schönreden«, schreibt Brown. »Doch der Lebensweg dieser prominenten Waisen lässt vermuten, dass sich unter bestimmten Umständen aus der Not eine Tugend machen lässt.« 71
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Als Jay Freireich 1955 ans Nationale Krebsforschungszentrum kam, hieß der medizinische Leiter Gordon Zubrod. Dieser teilte ihn der Abteilung für Kinderleukämie zu, die sich im zweiten Stock des Hauptgebäudes befand. 72 Kinderleukämie war damals eine der schrecklichsten Krebserkrankungen. Sie schlug ohne jede Warnung zu. Die Kinder, die oft erst ein oder zwei Jahre alt waren, bekamen plötzlich Fieber. Es sah zunächst aus wie eine Erkältung, doch die Symptome schwächten sich nicht ab. Dann folgten Kopfschmerzen und schließlich Infektionen, bis der Körper des Kindes kaum noch Abwehrkräfte hatte. Dann begannen die Blutungen.
»Dr. Zubrod ist einmal in der Woche zu mir gekommen, um zu sehen, wie wir vorankamen«, erinnert sich Freireich. »Er hat zu mir gesagt: ›Freireich, hier sieht es ja aus wie auf dem Schlachthof! Hier ist ja überall Blut! Wir müssen sauber machen!‹ Er hatte Recht. Die Kinder haben überall geblutet, im Stuhl, im Urin. Das war das Schlimmste. Sie haben die Decke vollgespritzt. Sie haben aus den Ohren und aus der Haut geblutet. Überall war Blut. Die Schwestern sind morgens mit weißen Kitteln zur Arbeit gekommen und abends blutbeschmiert nach Hause gegangen.«
Die Kinder hatten innere Blutungen, sie bluteten in Milz und Leber, was ihnen große Schmerzen verursachte. Wenn sie sich im Bett umdrehten, konnten sie sich furchtbare Verletzungen zufügen. Selbst ein Nasenbluten konnte tödlich sein. Die Schwestern drückten dem Kind die Nasenflügel zusammen und kühlten sie mit Eis. Das war wirkungslos. Dann stopften sie den Kindern Gaze in die Nase. Auch das half nicht. Sie riefen einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt hinzu, der die Gaze durch den Mund in die Nasenhöhle einführte und durch die Nasenlöcher nach vorn zog. Auf diese Weise sollte von innen Druck auf die Blutgefäße ausgeübt werden. Sie können sich vorstellen, wie schmerzhaft das für die Kinder war. Aber auch das schlug meist fehl, also wurde die Gaze wieder entfernt und die Blutung begann erneut. Die zweite Etage sollte eine Methode zur Bekämpfung von Leukämie finden. Doch die Blutungen waren derart unkontrollierbar, dass die Kinder meist tot waren, ehe irgendjemand wusste, wie man ihnen helfen konnte.
»Als ich anfing, sind 90 Prozent der Kinder innerhalb von sechs Wochen gestorben«, berichtet Freireich. »Sie sind einfach verblutet. Wenn Sie aus Mund und Nase
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