David und Goliath
deprimiert. Ich habe mich nie zu den Eltern gesetzt und geweint, weil ihr Kind stirbt. Wenn man uns fragen würde, ob wir jemandem eine Kindheit wünschen würden, wie sie Freireich hinter sich hatte, würden wir mit Sicherheit Nein sagen, denn wir können uns nicht vorstellen, dass eine Kindheit wie diese irgendetwas Gutes bringen soll. Eine Kindheit wie diese hinterlässt ein einziges Trauma.
Oder vielleicht doch nicht?
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Anfang der 1960er Jahre befragte der Psychologe Marvin Eisenstadt »Kreative« – Erfinder, Künstler und Unternehmer –, um Muster und Trends aufzuspüren. Bei der Auswertung seiner Befragungen stieß er auf einen sonderbaren Zusammenhang: Ein erstaunlich großer Anteil hatte während der Kindheit mindestens einen Elternteil verloren. Die von Eisenstadt untersuchte Gruppe war zu klein, um auszuschließen, dass es sich lediglich um einen Zufall handelte. Doch die Frage ließ ihn nicht los. Was wäre, wenn es kein Zufall war? Wenn es tatsächlich einen Zusammenhang gab? In der psychologischen Literatur hatte er verstreut ein paar Hinweise gefunden. In den 1950er Jahren hatte die Wissenschaftshistorikerin Anne Roe in einer Arbeit über berühmte Biologen nebenbei angemerkt, dass viele als Waisen oder Halbwaisen aufgewachsen waren. Einige Jahre später beobachteten Literaturwissenschaftler dasselbe Phänomen bei einer nicht repräsentativen Übersicht über berühmte Dichter und Schriftsteller wie John Keats, WilliamWordsworth, Samuel Taylor Coleridge, Jonathan Swift, Edward Gibbon und William Makepeace Thackeray. Mehr als die Hälfte davon hatte vor dem 15. Lebensjahr Vater oder Mutter verloren. 65 Dieser Zusammenhang zwischen Erfolg und dem Verlust eines Elternteils war eine dieser Fußnoten, mit denen niemand etwas anzufangen weiß. Also machte sich Eisenstadt an ein ehrgeiziges Projekt.
»Das muss 1963 oder 1964 gewesen sein«, erinnert er sich. »Ich habe mit der Encyclopædia Britannica angefangen und später die Encyclopedia Americana dazugenommen.« Eisenstadt legte eine Liste aller Personen von Homer bis John F. Kennedy an, deren Artikel in der Enzyklopädie mehr als eine Spalte einnahmen – ein ganz gutes Maß für eine bedeutende Lebensleistung. Auf diese Weise kam er auf 669 Männer und Frauen. Danach suchte er zu jeder dieser Personen biografische Informationen. »Es hat mich zehn Jahre gekostet«, berichtet Eisenstadt. »Ich habe Bücher in allen möglichen Sprachen gelesen und in der Kongressbibliothek und der genealogischen Bibliothek in New York City recherchiert. Ich habe so viele Profile zusammengestellt wie möglich, bis ich eine gute statistische Probe hatte.«
Von den 573 berühmten Menschen, zu denen Eisenstadt verlässliche biografische Informationen auftreiben konnte, hatte eine Viertel vor dem zehnten Lebensjahr mindestens einen Elternteil verloren. Bis zum 15. Lebensjahr war dieser Anteil auf 34,5 Prozent gestiegen, und bis zum 20. Lebensjahr waren es 45 Prozent. 66 Obwohl die Lebenserwartung vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts durch Krankheiten, Unfälle und Kriege deutlich niedriger war als heute, waren dies erstaunliche Zahlen.
Während Eisenstadt diese Untersuchungen anstellte, schrieb Lucille Iremonger eine Geschichte der britischen Premierminister. Sie konzentrierte sich auf den Zeitraum zwischen dem Beginn des 19. Jahrhunderts und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Sie fragte sich, welchen Hintergrund und welche Eigenschaften jemand mitbringen musste, um an die Spitze des größten Weltreichs der Geschichte zu kommen. Wie Eisenstadt stieß sie auf einen merkwürdigen Umstand, »der so verbreitet war, dass ich mich fragte, ob es sich um mehr als einen Zufall handeln konnte«, wie sie schrieb. 67 Von den untersuchten Premierministern hatten 76 Prozent vor dem 16. Lebensjahr mindestens einen Elternteil verloren – doppelt so viele wie der Rest der britischen Oberschicht, aus der diese Politiker stammten. Das Muster wiederholte sich unter den Präsidenten der Vereinigten Staaten: Von den bisher 44 Amtsträgern verloren zwölf noch während der Kindheit ihren Vater. 68
Seither taucht das Thema der schwierigen Kindheit und des Verlusts eines Elternteils immer wieder in der Forschungsliteratur auf. Beispielsweise in einem spannenden Aufsatz, in dem der Psychologe Dean Simonton der Frage nachgeht, warum so viele begabte Kinder die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen. Als Grund nannte er »ihre übermäßige psychische Gesundheit«.
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