David und Goliath
Freireich einige Kämpfe durchgestanden, als es um die Blutplättchen ging. Dem Experiment mit Vincristin hatte er nur widerwillig zugestimmt. Er war verantwortlich für das, was in der zweiten Etage passierte. Wenn etwas schiefging, konnte er vor einen Untersuchungsausschuss im Kongress geschleift werden. Können Sie sich das vorstellen? Zwei rebellische Wissenschaftler behandeln vier- und fünfjährige Kinder in einem staatlichen Forschungskrankenhaus mit hochgiftigen Medikamenten. Zubrod hatte schwere Bedenken. Doch Frei und Freireich blieben hartnäckig. Das heißt, Frei blieb hartnäckig. An derart heiklen Diskussionen durfte Freireich nicht teilnehmen. »Ohne Tom wäre ich aufgeschmissen gewesen«, erinnert sich Freireich. »Frei ist das genaue Gegenteil von mir. Sehr entschlossen und sehr menschlich.« Natürlich seien die Medikamente giftig, erklärte Frei. Aber sie seien auf unterschiedliche Weise giftig, das heißt, wenn man sie richtig dosiere und die Nebenwirkungen entschieden genug behandele, dann hatten die Kinder eine Chance. Zubrod gabnach. »Im Grunde war es verrückt«, meint Freireich heute. »Aber es war richtig. Ich habe lange darüber nachgedacht und ich war mir sicher, dass es funktionieren würde. Es war wie bei den Blutplättchen: Es musste funktionieren!«
Das Versuchsprogramm nannte sich VAMP. Einige der Ärzte der Abteilung weigerten sich mitzumachen. Sie hielten Freireich für einen Spinner. »Ich musste alles selber machen«, berichtet Freireich. »Ich habe die Medikamente bestellt. Ich habe sie zusammengestellt. Ich habe sie gespritzt. Ich habe das Blut untersucht. Ich habe die Blutungen gemessen. Ich habe das Knochenmark untersucht.« An der ersten Versuchsrunde nahmen dreizehn Kinder teil. Das erste war ein Mädchen. Freireich begann mit einer Dosierung, die sich als zu hoch erwies und das Mädchen beinahe getötet hätte. Er saß stundenlang an ihrem Bett und behandelte sie mit Antibiotika und Beatmungsgeräten. Sie überlebte und starb später, als der Krebs zurückkehrte. Aber Frei und Freireich lernten schnell dazu. Sie veränderten die Behandlung und begannen mit dem zweiten Kind, einem Mädchen namens Janice. Es erholte sich, genau wie das nächste Kind und das übernächste. Der Anfang war gemacht.
Das Problem war nur, dass der Krebs nicht gänzlich verschwunden war. Eine Handvoll bösartiger Zellen lauerte noch im Körper. Die beiden Ärzte erkannten, dass eine einzige Chemotherapie nicht ausreichend war. Also begannen sie mit einer zweiten Runde. Würde die Krankheit nun zurückkommen? Ja, sie kam zurück. Also unternahmen sie einen weiteren Versuch. »Wir haben sie dreimal behandelt«, erzählt Freireich. »Bei zwölf von dreizehn Kindern ist die Krankheit zurückgekommen. Also haben wir gesagt, es gibt nur eine Möglichkeit. Wir behandeln sie einmal im Monat, ein ganzes Jahr lang.« 81
»Wenn die Leute vorher gemeint haben, dass ich verrückt bin, dann haben sie mich jetzt für völlig durchgeknallt gehalten«, erzählt Freireich weiter. »Die Kinder schienen geheilt, der Krebs abgeklungen, sie sind herumgelaufen und haben Fußball gespielt, und ich wollte sie wieder ins Krankenhaus stecken und krank machen. Keine Blutplättchen. Keine weißen Blutkörperchen. Blutungen. Infektionen.« VAMPmachte das Immunsystem der Kinder platt. Sie waren schutzlos. Es war eine Qual für ihre Eltern. Aber um eine Überlebenschance zu haben, musste das Kind immer wieder erbarmungslos an den Rand des Todes geführt werden.
Freireich stürzte sich mit Leidenschaft in seine Arbeit und nutzte jedes Fünkchen seiner Energie und seines Mutes, um seine Patienten am Leben zu erhalten. Damals war es üblich, bei Fieber Blut abzunehmen, eine Bakterienkultur anzulegen und nach Eintreffen der Ergebnisse das Antibiotikum zu verabreichen, das am besten mit dem Erreger fertig wurde. Antibiotika wurden nie in Kombination verabreicht. Ein zweites Antibiotikum gab man nur, wenn das erste nicht wirkte. »Jay sagte, das geht so nicht«, erinnert sich DeVita. »Wenn das Fieber hochschießt, müssen die Kinder sofort behandelt werden, und zwar mit einer Kombination von Antibiotika. Wenn das nicht passiert, sind die Kinder in drei Stunden tot.« DeVita hatte ein Antibiotikum, von dem es ausdrücklich hieß, dass es nicht in die Rückenmarksflüssigkeit eingespritzt werden durfte. Freireich wies ihn an, es einem Patienten zu spritzen – ins Rückenmark. »Freireich hat Sachen angeordnet, die laut Lehrbuch
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