David und Goliath
schreit wie am Spieß, die Eltern und Schwestern müssen es festhalten. Diese Prozedur haben wir einmal im Monat wiederholt. Wir mussten doch wissen, ob sich das Knochenmark erholt hatte.« «
Als er sagt, »sie stecken ihm eine millimeterstarke Nadel ins Schienbein«, huscht ein Blick über sein Gesicht, als könnte er nachvollziehen, wie sich das anfühlt, und als müsste er unter dem Gefühl des Schmerzes innehalten. Doch der Blick verschwindet so schnell, wie er gekommen ist.
10
Während seines Praktikums lernte Jay Freireich eine Krankenschwester namens Haroldine Cunningham kennen. Er lud sie zum Essen ein, doch sie lehnte ab. »Die jungen Ärzte waren ziemlich dreist«, erinnert sie sich. »Er hatte den Ruf, sehr direkt zu sein. Er hat mich ein paar Mal angerufen, aber ich habe immer Nein gesagt.« Einmal fuhr Cunningham übers Wochenende zu ihrer Tante in einem Vorort von Chicago. Plötzlich klingelte das Telefon – es war Freireich. Er war mit dem Zug aus Chicago gekommen und rief sie vom Bahnhof aus an. »Er hat nur gesagt: ›Ich bin da!‹ Er war schon ziemlich hartnäckig.« Das war Anfang der 1950er Jahre. Seither sind die beiden verheiratet.
Freireichs Frau ist so klein, wie er groß ist. Doch so klein sie ist, so groß sind ihre Reserven. »Ich sehe den Mann und weiß, was er braucht«, sagt sie. Wenn er spätabends vom Krankenhaus und all dem Blut und Leid nach Hause kam, war sie für ihn da. »Sie war der erste Mensch, der mich je geliebt hat«, sagt Freireich. »Sie ist mein Engel. Sie hat mich gefunden. Sie muss irgendetwas in mir gesehen haben, das man aufpäppeln konnte. In allem höre ich auf sie. Sie gibt mir jeden Tag Kraft.«
Auch Haroldine wuchs in armen Verhältnissen auf. Ihre Familie lebte in einer Wohnung am Stadtrand von Chicago. Als sie zwölf Jahre alt war, wollte sie einmal ins Bad gehen, doch die Tür war verschlossen. »Meine Mutter hatte abgeschlossen. Ich habe den Hausbesitzer geholt, der unter uns gewohnt hat. Er ist übers Fenster ins Bad eingestiegen. Wir haben sie ins Krankenhaus gebracht, und da ist sie gestorben. Mit zwölf oder dreizehn hat man keine Ahnung, was da vor sich geht, aber ich habe gewusst, dass sie unglücklich war. Mein Vater war natürlich auch nicht da. Er war kein besonders guter Vater.«
Sie saß auf einem Stuhl im Büro ihres Mannes, der ruhende Pol im turbulenten Leben ihres Mannes. »Man muss sich klar sein, dass man mit Liebe nicht jeden retten kann. Ich bin mal gefragt worden, ob ich nicht wütend bin. Ich habe gesagt, nein, ich bin nicht wütend. Ich habe meine Mutter verstanden. Es gibt Dinge, die einen entweder zerstören oder stark machen. Das haben Jay und ich gemeinsam.«
TEIL 3
Die Grenzen der Macht
Wiederum habe ich unter der Sonne beobachtet:
Nicht den Schnellen gehört im Wettlauf der Sieg,
nicht den Tapferen der Sieg im Kampf,
auch nicht den Gebildeten die Nahrung,
auch nicht den Klugen der Reichtum,
auch nicht den Könnern der Beifall,
sondern jeden treffen Zufall und Zeit.
Das Buch Kohelet (Prediger) 9,11
KAPITEL 7
Rosemary Lawlor
So bin ich nicht auf die Welt gekommen. Das hat man mir aufgezwungen.
Rosemary Lawlor
1
Als der Nordirlandkonflikt begann, war Rosemary Lawlor frisch verheiratet. Sie und ihr Mann hatten gerade ein Haus in Belfast gekauft und ein Kind bekommen. Es war der Sommer des Jahres 1969, und Katholiken und Protestanten – die beiden religiösen Gruppierungen, die seit mehr als drei Jahrhunderten in Unfrieden nebeneinander lebten – gingen einander an die Gurgel. Es kam zu Bombenanschlägen und Krawallen. Militante Protestanten – die sogenannten Loyalisten – zogen durch die Straßen und steckten Häusern von Katholiken in Brand. Die Lawlors waren Katholiken, die in Nordirland in der Minderheit waren. Mit jedem Tag wuchs ihre Angst.
» Wenn ich abends nach Hause gekommen bin, hatte jemand was an die Tür geschmiert. ›Katholiken raus‹ oder ›Papst raus‹.«, erinnert sich Lawlor. »An einem Abend hatten wir großes Glück. Jemand hat eine Bombe in den Hof geschmissen, aber sie ist nicht explodiert. Einmal habe ich bei meiner Nachbarin geklopft, und da habe ich bemerkt, dass sie nicht mehr da war. An dem Tag habe ich mitbekommen, dass eine ganze Menge Nachbarn gegangen waren. Als mein Mann Terry von der Arbeit nach Hause gekommen ist, habe ich ihn gefragt: ›Terry, was ist hier los?‹ Und er hat gesagt: ›Wir sind in Gefahr.‹
An dem Abend sind wir weg. Wir hatten kein Telefon. Sie
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