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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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absolut tabu waren.«
    » »Freireich musste viel Kritik einstecken«, erzählt DeVita weiter. »Der Beirat hielt seine Behandlung für verrückt. Aber er hat alles eingesteckt. Sie haben ihn beleidigt, vor allem die Jungs aus Harvard. Aus der hintersten Reihe haben sie dazwischen gerufen. Er hat etwas gesagt, und sie haben gerufen: ›Klar, Jay! Und ich flieg zum Mond!‹ Es war furchtbar. Aber Jay war die ganze Zeit da, er hat uns dauernd über die Schulter geschaut, ist jeden Labortest und jede Auswertung durchgegangen. Gnade dir Gott, wenn du vergessen hast, etwas für seinen Patienten zu tun. Dann ist er wild geworden. Er hat sich eine Menge Ärger eingehandelt mit dem, was er gesagt und getan hat. In Besprechungen hat er Leute beleidigt, und dann musste Frei dazwischen gehen und die Wogen glätten. Ob er sich dafür interessiert hat, was die anderen von ihm halten? Wahrscheinlich schon. Aber nicht genug, um mit etwas aufzuhören, das er für richtig gehalten hat.« « 82
    »Ich weiß nicht, wie Jay das ausgehalten hat«, sagt Frei schließlich.
    Aber wir wissen es: Er hatte schon Schlimmeres erlebt.
    Im Jahr 1965 veröffentlichten Freireich und Frei einen Artikel in der Fachzeitschrift Advances in Chemotherapy , in dem sie ihre Methode zu Behandlung von Kinderleukämie vorstellten. Heute liegt der Behandlungserfolg bei dieser Krebsart bei 90   Prozent. 83 Dank der Anstrengungen von Freireich und den Wissenschaftlern, die in seine Fußstapfen traten, konnten inzwischen viele Tausend Kinder gerettet werden.
9
    Sollte Freireich deshalb für seine unglückliche Kindheit dankbar sein? Natürlich nicht. Er musste Dinge durchmachen, die man als Kind einfach nicht durchmachen sollte. Als ich die Legastheniker aus dem vorigen Kapitel fragte, ob sie ihren Kindern Legasthenie wünschen würden, verneinten alle. Grazer schüttelte sich bei dem Gedanken. Gary Cohn war entsetzt. David Boies hat selbst zwei Söhne mit LRS. Einer der erfolgreichsten Produzenten Hollywoods, einer der mächtigsten Banker der Wall Street und einer der besten Prozessanwälte des Landes wissen, dass sie ihren Erfolg zu einem Gutteil der Legasthenie verdanken. Doch sie wissen auch, welchen Preis sie für ihren Erfolg zahlen mussten, und würden ihren Kindern niemals wünschen, die gleichen Erfahrungen machen zu müssen.
    Doch die Frage, was wir unseren Kindern wünschen würden, ist falsch gestellt. Die Frage ist vielmehr, ob wir als Gesellschaft Menschen brauchen, die ein Trauma überlebt haben. Und diese Frage können wir eindeutig mit Ja beantworten. Das ist kein angenehmer Gedanke. Denn auf jeden Überlebenden, der gestärkt aus einer Tragödie hervorgeht, kommen zahlreiche Menschen, die zerstört werden. Trotzdem, in manchen Situationen sind wir einfach auf Menschen angewiesen, die durch ihre Erfahrungen abgehärtet wurden. 84 Freireich hatte den Mut, das Undenkbare zu denken. Er führte Experimente mit Kindern durch.Er verursachte ihnen Schmerzen, die kein Mensch je sollte durchleiden müssen. Doch er tat dies auch, weil er aus seiner eigenen Kindheit wusste, dass es möglich ist, durch die Hölle zu gehen und zu überleben. Leukämie war ein Todesurteil. Freireich machte die Kinder zu Überlebenden.
    Auf dem Höhepunkt seines Kampfes gegen Kinderleukämie stellte Freireich fest, dass die herkömmliche Methode der Beobachtung des Krankheitsverlaufs – die Entnahme von Blutproben und die Auszählung von Krebszellen unter dem Mikroskop – nicht ausreichte. Das Blut täuschte. Es konnte den falschen Eindruck erwecken, die Kinder hätten den Krebs besiegt. Doch die Krankheit konnte noch im Knochenmark lauern. Und das bedeutete, dass er schmerzhafte Knochenmarksproben entnehmen musste, immer und immer wieder, Monat für Monat, bis er sicher sein konnte, dass der Krebs überwunden war. Als Max Wintrobe von Freireichs Plänen hörte, wollte er ihn daran hindern. Freireich quäle die Kinder, so Wintrobe. Er hatte nicht Unrecht. Er reagierte mit Empathie. Doch mit dieser Reaktion wäre niemals eine Behandlungsmethode entwickelt worden.
    » »Bei der Entnahme von Knochenmark haben wir die Beine genommen« – mit seiner Pranke macht Freireich eine Geste, als würde er den kleinen Unterschenkel eines Kindes packen. »Wir haben die Nadel ohne Anästhesie eingeführt. Warum keine Anästhesie? Weil sie genauso geschrien haben, wenn wir sie vorher örtlich betäubt haben. Sie stecken eine millimeterstarke Nadel direkt unterm Knie ins Schienbein. Das Kind

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