David und Goliath
und Seitenscheitel. Die gelernte Schneiderin ist geschmackvoll gekleidet und trägt eine bunt geblümte Bluse und weiße, dreiviertellange Hosen. Die Ereignisse, die sie schildert, liegen vierzig Jahre zurück, doch sie erinnert sich noch an jede Einzelheit.
»Mein Vater hat damals gesagt, ›Die Briten werden auf uns losgehen. Die behaupten, sie sind zu unserem Schutz da. Aber die werden auf uns losgehen, du wirst schon sehen.‹ Und er hat hundert Prozent Recht gehabt. Die sind auf uns losgegangen. Mit der Ausgangssperre hat es angefangen.«
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Just in dem Jahr, in dem Nordirland im Chaos versank, schrieben die beiden Politikwissenschaftler Nathan Leites und Charles Wolf einen politischen Leitfaden für den Umgang mit Gewalt. Leites und Wolf arbeiteten für die RAND Corporation, einen einflussreichen Think Tank, der nach dem Zweiten Weltkrieg vom Pentagon ins Leben gerufen worden war. Ihre Untersuchung trug den Titel Rebellion and Authority . Damals explodierte in vielen Teilen der Welt die Gewalt, und Leites und Wolf wurde zur Pflichtlektüre. Rebellion and Authority wurde zur Blaupause für den Kampf gegen den Vietcong, für den Umgang der Polizei mit Unruhen und für den »Krieg gegen den Terror«. Die Autoren kamen zu einer ganz einfachen Schlussfolgerung:
» Wir gehen in unserer Analyse von der Annahme aus, dass sich die Bevölkerung, sowohl Einzelpersonen als auch Gruppen, rational verhält, dass sie also die Kosten und Nutzen bestimmter Handlungen gegeneinander abwägt und auf dieser Grundlage ihre Entscheidungen trifft ... Um auf das Verhalten der Bevölkerung einzuwirken, sind weder Sympathie noch Mystik nötig, sondern lediglich ein besseres Verständnis dessen, welche Kosten und Nutzen Einzelpersonen und Gruppen gegeneinander abwägen und wie sie dies tun. « 125
Mit anderen Worten: Die Kontrolle von Aufständischen ist nichts anderes als eine Rechenaufgabe. Wenn es in den Straßen von Belfast zu Krawallen kommt, dann nur deshalb, weil es die Randalierer nicht teuer genug zu stehen kommt, wenn sie Fensterscheiben einwerfen oder Häuser in Brand stecken. Wenn Leites und Wolf schreiben, »um auf das Verhalten der Bevölkerung einzuwirken, sind weder Sympathie noch Mystik nötig«, behaupten sie, dass es nur darauf ankommt, diese Kosten-Nutzen-Rechnung zu verändern. Die Machthaber müssen sich nicht den Kopf über die Motive oder Gefühle der Aufständischen zerbrechen. Sie müssen nur hart genug durchgreifen, damit es sich die Unruhestifter zweimal überlegen.
Der General der britischen Streitkräfte in Nordirland war ein Mann, der den Seiten von Rebellion and Authority entstiegen zu sein schien. Er hieß Ian Freeland, hatte sich im Zweiten Weltkrieg in der Normandie verdient gemacht und später in Zypern und Sansibar gegen Aufständische gekämpft. Er war ein schneidiger, aufrechter Offizier mit kantigem Kinn und eiserner Faust und »vermittelte ganz den Eindruck eines Mannes, der nicht nur wusste, was zu tun war, sondern der es auch tat«. 126 Bei seiner Ankunft in Nordirland ließ er keinen Zweifel daran, dass seine Geduld sehr begrenzt war. Er fürchtete sich nicht davor, zur Gewalt zu greifen. Vom britischen Premierminister hatte er die Anweisung erhalten, »hart und sichtbar gegen Randalierer und Bewaffnete vorzugehen«.
Am 30. Juli 1970 erhielt die britische Armee einen Hinweis. Im Stadtteil Lower Falls, in der Balkan Street 24, seien Waffen und Sprengstoffe versteckt. Unverzüglich schickte Freeland fünf Panzerwagen mit Soldaten und Polizisten in die Balkan Street. Bei der Durchsuchung des Hauses wurden tatsächlich Schusswaffen und Munition gefunden. Währenddessen versammelte sich draußen eine Menschenmenge. Steine flogen, und aus Steinen wurden Molotowcocktails. Es begann eine Straßenschlacht. Um 22 Uhr hatte die Armee genug. Ein Helikopter kreiste über dem Viertel und forderte die Einwohner auf, in ihren Häusern zu bleiben, da sie andernfalls verhaftet würden. Kaum hatten sich die Straßen geleert, begann die Armee, jedes einzelne Haus zu durchzusuchen. Jeder Widerstand wurde sofort geahndet. Am nächsten Morgen fuhr ein triumphierender General zusammen mit zwei protestantischen Regierungsbeamten und einer Gruppe Journalisten in offenen Jeeps durch das Viertel und besichtigte die leergefegten Straßen – wie »die britischen Kolonialherren in Indien auf Tigerjagd«, 127 wie ein Soldat es später ausdrückte.
Die britische Armee war mit besten Absichten nach Nordirland
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