David und Goliath
ihr Buch fixiert, dass sie überhaupt nicht in der Lage ist, auf diese Kinder einzugehen. Zu ihrer Linken haben sich inzwischen fünf oder sechs Kinder umgedreht. Aber nicht, weil sie ungezogen sind – sie sind einfach verwirrt. Sie könne Stella nicht sehen, weil ihnen das lesende Mädchen die Sicht versperrt. Sie haben gar nicht die Möglichkeit, sich am Unterricht zu beteiligen. Wir verstehen Autorität oft als eine Reaktion auf Ungehorsam: Ein Kind stört und die Lehrerin ruft es zur Ordnung. Stellas Unterricht lässt jedoch einen ganz anderen Schluss zu: Rebellion könnte umgekehrt eine Reaktion auf die Autorität sein. Wenn die Lehrerin versagt, wird das Kind ungehorsam.
»Viele Leute sprechen von Verhaltensproblemen«, sagt Hamre. Wir schauen zu, wie sich eines der Mädchen auf dem Stuhl windet, herumhampelt, Grimassen schneidet und alles tut, um nur ja nicht zur Lehrerin sehen zu müssen. »Aber das Problem ist weniger das Verhalten der Kinder als die Unfähigkeit der Lehrerin, sie in den Unterricht einzubeziehen. Wenn die Lehrerin etwas Interessantes machen würde, dann wären diese Kinder sehr wohl in der Lage, aufmerksam teilzunehmen. Die Lehrerin sollte sich also keine Gedanken darüber machen, wie sie das Verhalten der Kinder kontrollieren kann, sondern sie sollte lieber darüber nachdenken, wie sie den Unterricht so interessant gestalten kann, dass die Kinder erst gar nicht stören.«
Als Nächstes zeigen mir Pianta und Hamre ein Video, in dem eine Lehrerin den Schülern einer dritten Klasse Hausaufgaben gibt. Sie verteilt eine Kopie der Aufgaben an sämtliche Schüler und lässt sie dann die Anweisungen gemeinsam laut lesen. Pianta ist entsetzt. »Achtjährige Kinder im Chor die Aufgaben lesen zu lassen ist im Grunde eine Frechheit. Was soll das bringen? Was sollen die Kinder lernen?« Lesen können sie schließlich schon.
Während sie die Aufgaben lesen, hebt ein Junge in der ersten Reihe die Hand. Die Lehrerin fasst ihn am Handgelenk und drückt seine Hand nach unten. Ein anderes Kind beginnt, die Aufgaben zu machen – eine nachvollziehbare Entscheidung angesichts der Sinnlosigkeit der gemeinsamen Lektüre. Die Lehrerin ermahnt es scharf: »Das sind Hausaufgaben, mein Lieber!« Das ist eine Disziplinarmaßnahme. Das Kind hat gegen die Regeln verstoßen. Die Lehrerin reagiert unverzüglich und entschlossen. Ohne Ton würde die Szene wie eine perfekte Umsetzung von Leites und Wolf wirken. Wenn man aber die Worte der Lehrerin hört und sich in die Situation des Kindes versetzt, wird klar, dass die Maßnahme das Gegenteil des erwünschten Effekts bewirkt. Der Junge lernt nicht, dass es wichtig ist, sich an die Regeln zu halten. Er ist wütend und frustriert. Warum? Weil die Strafe vollkommen willkürlich ist. Er kann sich nicht äußern und seine Sicht der Dinge darstellen. Er will doch etwas lernen. Wenn der Junge sich nicht an die Anweisungen hält, dann liegt das an den Anweisungen, also an der Lehrerin. Genauso, wie Stella dafür sorgt, dass ein lernwilliges und aufmerksames Kind Räder auf dem Fußboden schlägt. Wenn Menschen in Autoritätspositionen ein bestimmtes Verhalten von anderen erwarten, dann hängt ihr Erfolg vor allem von ihrem eigenen Verhalten ab.
Das ist das sogenannte Legitimitätsprinzip. Legitimität setzt dreierlei voraus: Zuerst müssen die Menschen, die der Autorität Folge leisten sollen, das Gefühl haben, dass sie eine Stimme haben und dass diese Stimme gehört wird. Zweitens müssen die Regeln berechenbar sein, das heißt, wir müssen davon ausgehen können, dass das, was heute gilt, auch morgen noch Gültigkeit hat. Und drittens muss die Autorität gerecht sein, das heißt, sie muss alle gleich behandeln. 129
Eltern kennen diese drei Prinzipien. Wenn Sie wollen, dass der kleine Johnny aufhört, seine Schwester zu schlagen, dann können Sie nicht einmal ein Auge zudrücken und ihn beim nächsten Mal anschreien. Und sie müssen seine Schwester genauso zur Ordnung rufen, wenn sie ihn schlägt. Und wenn er sagt, dass er seine Schwester nicht geschlagen hat, dann muss er die Möglichkeit bekommen, sich zu verteidigen. Das Wie der Bestrafung ist genauso wichtig wie die Bestrafung selbst. Dass es in Stellas Unterricht hoch hergeht, ist nicht weiter verwunderlich. Wenn Sie an Ihre eigene Schulzeit denken, dann werden Sie sich erinnern, dass sich Lehrer den Respekt der Kinder erarbeiten müssen.
Das Legitimitätsprinzip gilt jedoch nicht nur im Unterricht, sondern auch bei
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