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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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gekommen. Die Polizei war nicht mehr Herr der Lage, und die Armee sollte die Aufgaben einer Friedenstruppe übernehmen und einen Puffer zwischen Katholiken und Protestanten bilden. Es war kein Auslandseinsatz: Sie befanden sich auf britischem Boden, die Menschen sprachen ihre Sprache. Mit ihren Ressourcen, Waffen, Soldaten und ihrer Erfahrung stellte die Armee die Aufständischen weit in den Schatten. Als Freeland an jenem Morgen durch die menschenleeren Straßen von Lower Falls fuhr, war er überzeugt, dass er und seine Männer im Spätsommer wieder nach Hause fahren konnten. Doch er sollte sich furchtbar irren. Aus ein paar schwierigen Monaten sollten dreißig Jahre Blutvergießen und Chaos werden.
    In Nordirland begingen die Briten einen ganz einfachen Fehler: Sie nahmen an, weil sie den Aufständischen an Ressourcen, Waffen, Soldaten und Erfahrung weit überlegen waren, könne es ihnen vollkommen gleichgültig sein, was die Menschen in Nordirland von ihnen hielten. Genau wie Leites und Wolf war auch General Freeland überzeugt, er müsse keinerlei Sympathie aufbringen, um auf das Verhalten der Bevölkerung einzuwirken. Doch der General täuschte sich.
    »Es heißt, die meisten Revolutionen würden nicht von Revolutionären verursacht, sondern von der Dummheit und Brutalität der Staatsmacht«, sagte Seán MacStiofáin, erster Führer der provisorischen irisch-republikanischen Armee IRA im Rückblick auf diese ersten Jahre des Nordirlandkonflikts. »In Nordirland hatten wir von beidem mehr als genug.« 128
3
    Um zu verstehen, welchen Fehler die Briten in Nordirland machten, könnte man die Situation mit einem Klassenzimmer vergleichen. Stellen Sie sich eine Vorschulklasse vor, einen Raum mit bunten Wänden, an denen Kinderzeichnungen hängen. Vor einer Gruppe von Kindern steht eine Lehrerin, die wir Stella nennen wollen.
    Der Unterricht wird im Rahmen eines Projekts der University of Virginia aufgezeichnet, und es gibt ausreichend Videomaterial, um zu verstehen, wie sich Stella und die Kinder verhalten. Aber schon nach wenigen Minuten wird klar, dass hier einiges schiefläuft.
    Stella sitzt auf einem Stuhl vor der Gruppe. Sie liest laut aus einem Buch vor, das sie schräg vor sich hält: »sieben süße Tomaten, acht saftige Oliven, neun saure Äpfel«. Vor ihr steht ein Mädchen, das mitliest, doch der Rest der Klasse versinkt im Chaos – eine Miniversion von Belfast im Sommer 1970. Ein Mädchen schlägt auf dem Fußboden Räder. Ein Junge schneidet Grimassen. Die meisten Kinder scheinen überhaupt nicht aufzupassen. Einige Kinder haben sich umgedreht und wenden Stella den Rücken zu.
    Welchen Eindruck bekämen Sie, wenn Sie in dieses Klassenzimmer kämen? Vermutlich kämen Sie spontan zu dem Schluss, dass es sich um eine besonders ungezogene Gruppe handelt. Vielleicht befindet sich die Schule in einem armen Viertel, oder die Kinder kommen aus Problemfamilien. Vielleicht haben die Kinder nie gelernt, was Autorität und Lernen bedeuten. Leites und Wolf würden Stella vermutlich empfehlen, hart durchzugreifen. Kinder brauchen Strenge. Sie brauchen Regeln. Wenn im Klassenzimmer keine Ordnung herrscht, wie sollen die Kinder dann etwas lernen?
    In Wirklichkeit befindet sich die Schule nicht in einem Problemviertel. Und die Kinder sind auch nicht ungezogener als andere. Zu Beginn des Unterrichts sind sie still und aufmerksam und wollen etwas lernen. Erst nach einer ganzen Weile werden die Kinder unaufmerksam, und zwar in Reaktion auf Stellas Verhalten. Stella trägt die Schuld an dem Chaos. Warum? Weil sie keine Ahnung hat, wie man eine Klasse führt.
    Stella lässt eines der Mädchen laut mitlesen, weil sie hofft, die Kinder auf diese Weise einzubeziehen. Dadurch wird die Lektüre jedoch unerträglich langsam und hölzern. »Schauen Sie sich nur mal ihre Körpersprache an«, sagt Bridget Hamre, eine der Bildungsforscherinnen der University of Virginia, während wir uns gemeinsam das Video ansehen. »Sie redet nur mit dem einen Kind, die anderen Kinder können sich nicht beteiligen.« Und ihr Kollege Robert Pianta fügt hinzu: »Das hat keinen Rhythmus, kein Tempo, das geht völlig ins Leere. Was sie da macht, hat keinerlei pädagogischen Wert.«
    Erst in diesem Moment gerät der Unterricht aus den Fugen. Der kleine Junge schneidet Grimassen. Stella bekommt gar nicht mit, dass das Mädchen seine Räder schlägt. Drei oder vier Kinder rechts von Stella versuchen noch, dem Unterricht zu folgen. Doch Stella ist so auf

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