Davids letzter Film
mitgenommen von ihrem Gespräch. Seine Augen schimmerten wässrig und waren rot umrändert.
»Glaubst du wirklich, wir beide können gleich viel für – ja – für die Gesellschaft tun?«, fragte er.
Es schnürte Flo die Kehle zusammen. Er hasste Daviddafür, dass er ihn so weit trieb, dass er so sehr in den Wunden bohrte. Aber hatte ihn dieses vage Gefühl nicht all die Jahre
hindurch gequält? Das Gefühl, seinem Freund David in gewisser Weise unterlegen zu sein? Hatte er es sich nicht insgeheim immer
eingestanden? Er und David waren gleichzeitig mit der Idee gestartet, Filme zu machen. Schon, dass diese Idee von David stammte,
sprach ja für sich. Beide hatten sie alles gegeben, um dieses Ziel zu erreichen. David hatte seitdem mehrere Filme gedreht.
In den vergangenen Tagen hatte Flo einiges davon gesehen, und es hatte ihn zum Teil tief beeindruckt. Und was hatte
er
in der gleichen Zeitspanne gemacht? Er hatte ein paar lausige Artikel geschrieben, die er selbst nicht besonders gut fand.
War es da nicht geradezu lächerlich, wenn er sich dagegen sträubte anzuerkennen, dass es einen Unterschied gab zwischen ihnen?
Natürlich gab es den! Was David machte, war einfach besser! Und genau das hatte David damals ja auch behauptet, als er das
Skript für sich allein in Anspruch genommen hatte. Was war daran so ein Skandal? Natürlich konnte das, was verschiedene Leute
machten, nicht alles gleich gut sein, gleich viel wert sein. Hatte David nicht
recht,
wenn er es wagte, diese Binsenweisheit einmal auszusprechen? Eine Wahrheit, vor der doch keiner, der sich damit auseinandersetzte,
die Augen verschließen konnte und die dennoch tabu war in der Gesellschaft. Hatte David also nicht recht, wenn er sagte, dass
es eine Scheinmoral gab? War es nicht eine Scheinmoral, die herrschte, die alle zwang, auf die Gleichheit zu schwören, obwohl
doch jeder, der einmal genau hinsah, sehr genau wusste, dass es so etwas wie Gleichheit nicht gab? Nicht geben konnte!
Er sah David an. Ihre Blicke trafen sich. Flo hasste das, was er eben gedacht hatte. Und er schämte sich. Er spürte, wie David
versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er Flo die Scham ansah. Und das vertiefte sie nur.
»Du hast mir diesen Film also gezeigt, um zu sehen, ob ich mich selbst degradiere, wenn ich ihn sehe«, sagte er schließlich
und ließ David nicht aus den Augen. »Ist es das, worauf du hinauswillst? Weshalb du mich nach Berlin gelockt hast?«
David richtete sich auf und schlug auf den Tisch. »Ich wusste, dass du der Richtige bist, Flo!«, rief er. Man sah ihm seine
Erleichterung an.
»Es soll ein perfekter Film werden, stimmt’s?«, zischte Flo. »Ein Film, in dem auch Regisseur und Zuschauer auftreten.« Sein
Blick irrte in der Teeküche umher. »Deshalb ist er noch nicht fertig! Du musst meine Reaktion noch hineinschneiden. Meine
Reaktion, die du jetzt gerade irgendwo aufnimmst.«
David strahlte und zeigte auf eine kleine Überwachungskamera in der oberen Ecke des Raumes, die Flo noch gar nicht aufgefallen
war. »Da ist sie.«
Flo schleuderte seine Bierflasche nach der Kamera. Mit lautem Klirren zersprang das Glas an der Wand.
David riss die Arme über den Kopf und lachte.
Flo schrie. »Wie selbstherrlich du bist, Mann! Du machst einen Film, in dem eine abartige Moral vertreten wird. Eine Moral,
die sagt, dass die Menschen nicht wirklich gleich sind. Eine Moral – du
Arsch!
– derzufolge du mehr wert bist als ich! Und dann zeigst du mir den Film. Ausgerechnet mir. Ich soll als Zuschauer dazu gebracht
werden, diese neue, angeblich richtige Moral gutzuheißen.Ich soll mich in die Rolle fügen, die du mir zugeteilt hast. Die Rolle des Zweitklassigen! Schämst du dich nicht! Das ist
grausam, David. Das ist widerlich. Es ist unerträglich!«
Die Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er fühlte sich zutiefst gekränkt, so gekränkt, wie er in seinem ganzen Leben noch nie
gekränkt worden war. Wie hatte er auch nur eine Sekunde lang glauben können, mit diesem Monster befreundet zu sein? Er lehnte
am Tisch, versuchte, seine Fassung wiederzuerlangen.
David stand vor ihm, seine Arme hingen herunter, seine Augen waren tief in die Höhlen getreten. Auch aus ihnen liefen Tränen.
Er machte einen Schritt nach vorn, nahm Flo in den Arm und drückte ihn. Als er sprach, klang seine Stimme rau. »Es tut mir
so leid, Flo. Es tut mir so leid«, sagte er.«Es tut mir so leid.«
37
Flo starrte aus dem
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