Davina
Ernst.«
»Meinetwegen.« Wolkow rührte den Zucker in seiner Kaffeetasse um. »Meinetwegen, wenn dir dieses Bürschchen so viel bedeutet – kann auch er fahren. Dein Vater muß zurückkommen, Irina. Nur darauf kommt es an. Er darf sich nicht von unseren Feinden gegen Russland einspannen lassen. Du kannst ihn überzeugen, daß er nicht bestraft werden wird, daß wir Verständnis für seine Krankheit haben und dafür, daß er sich wie ein krimineller Irrer benommen hat. Er wird behandelt und wieder in die sowjetische Gesellschaft aufgenommen werden. Und deine Mutter wird bei ihm sein. Ihr werdet wieder eine Familie sein. Ich nehme an, du wirst deinen Freund, diesen Poliakow, im Westen lassen, wenn du zurückkommst.«
»Vielleicht bleibe ich bei ihm«, sagte sie. »Aber das ist dir bestimmt einerlei, wenn nur mein Vater zurückkommt.«
»Es täte mir leid, dich zu verlieren, Irina«, sagte Wolkow leise. »Ich habe es nicht gern, wenn Sowjetbürger ihre Rechte einbüßen und im Exil leben. Aber du hast die Wahl, wenn es soweit ist. Und ich habe hier noch etwas für dich; du kannst es deinem Vater zeigen.«
Sie erkannte die Handschrift ihrer Mutter. Als sie den Briefumschlag entgegennahm, sagte er: »Nein, mach ihn hier noch nicht auf. Lies ihn später.« Sie steckte den Brief in ihre Handtasche.
»Zwei Ausweise zur Reise auf die Krim mit Aufenthalt in Livadia«, sagte Wolkow. »Zwei Wochen Urlaub, Reisetag ist der 25. Ich schicke sie dir morgen vorbei, meine Liebe. Und jetzt trinke bitte deinen Kaffee aus, wir wollen nach Moskau zurückfahren.«
Während der Fahrt herrschte Stille. Er rührte sie nicht an und ergriff nicht einmal ihre Hand. Sie hörte ihn ein kleines Volkslied vor sich hin summen, während er aus dem Fenster schaute.
Der Wagen hielt vor ihrer Wohnung; er beugte sich vor und öffnete ihr die Tür.
»Ich komme heute abend nicht mit hinein«, sagte er. »Hoffentlich bist du nicht zu enttäuscht. Du wirst Geld für deine Reise brauchen. Ich schicke es dir mit den Anweisungen. Vergiß nicht, den Brief zu lesen. Gute Nacht, Duschenka.«
Sie blieb einen Augenblick auf der Straße stehen und sah dem davonfahrenden Wagen nach. Dann nahm sie ihren Hausschlüssel heraus. Die alte Deschurnaja war durch einen Mann abgelöst worden, der den Häuserblock während der Nacht bewachte. Er sah jeden, der hereinkam oder hinausging, und meldete alles Ungewöhnliche der Polizei. Irina ging an ihm vorbei, fuhr mit dem Lift hinauf und schloß ihre Wohnungstür auf. Es war nach ein Uhr morgens. Sie ging in die Küche und goß sich ein Glas Milch ein. Dann setzte sie sich an den großen Tisch, wo sich ihre Familie abends mit Freunden zu versammeln pflegte, Tee trank, lachte, plauderte, aß – und manchmal Streitgespräche führte. Mit dem Brief in der Hand hatte sie das Gefühl, als erwachten ihre Erinnerungen zu neuem Leben, bis sich die Küche mit geisterhaften Gestalten zu füllen schien. Sie dachte an ihren Vater, die Heldenfigur ihrer Kindheit, den guten Kameraden ihres Erwachsenendaseins.
Und an ihre Mutter, die so warmherzig und standhaft war – eine altmodische Frau, für die die Familie einen Schatz und keine Last darstellte. Sie war von Liebe umgeben aufgewachsen. Und dann hatte es in dieser Küche eine andere Art von Liebe gegeben, eine liebevolle Zuneigung zwischen guten Freunden. Jacob Belezky, mit seinen brennenden, dunklen Augen hinter den Brillengläsern; seine tapfere Frau, die ihn bei allen seinen gefährlichen Reden unterstützte. Alle waren sie einen Augenblick wieder um sie herum, und dann verschwanden sie ebenso plötzlich wieder, und sie war allein in der Küche. Sie saß vor dem leeren Tisch und hielt den Brief ihrer Mutter in der Hand.
Die Tinte war ausgelaufen, als ob Tränen auf die Schrift gefallen waren. Der Brief war ein Blatt Papier mit eingerissenem Rand; es gab keine Überschrift, nur das Datum … es lag eine Woche zurück. Die Handschrift sah unregelmäßig und zittrig aus, als ob die Schreiberin sehr alt wäre. Sie schrieb von ihrem Leiden, ohne es näher zu schildern. Ihre wirkliche Drangsal überließ sie der Phantasie des Lesers. Sie bat um Hilfe, um Erleichterung. Der Brief erinnerte Tochter und Ehemann an ihre Verantwortung und an ihre Möglichkeiten, sie zu retten. Angst und Schmerz gingen ineinander über, weshalb einige Sätze schwer zu verstehen waren. Der Brief war ein schreckliches und gemeines Stück seelischer Erpressung, und Irina Sasonowa wußte, daß ihre
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