Davina
annehmen und so gut wie möglich eine Kopie von Sasonows Gebiss, über das die Akten bereits Aufschluss gaben, herstellen. Die Leiche wies keine besonderen Merkmale auf; das Alter stimmte ungefähr, ebenso wie Statur und Größe des Toten. Als Todesursache konnte mit Sicherheit Ertrinken angenommen werden. Die Zeitdauer, während der der Tote im Wasser gelegen haben mußte, stimmte nicht ganz mit dem Zeitpunkt von Sasonows Verschwinden überein, aber man konnte schließlich nicht alles haben.
Es war wenig ratsam, den Chef während des Wochenendes zu Hause zu stören, deshalb fertigte der junge Offizier einen Bericht an und ließ ihn für Montag früh im Büro liegen. Der Tote, dem man ein Identitätsplättchen aus Metall am linken Fuß befestigt hatte, blieb über das Wochenende in der kalten Finsternis seines Kühlraums. Die Familie von Per Svenson aus dem Dörfchen Staghan an der Nordküste Norwegens würde nie mehr als die traurige Nachricht erfahren, daß er während eines Sturms über Bord gefallen war.
Iwan Sasonow blickte am Abendessenstisch von Marchwood in die Runde. Mrs. Graham saß neben ihm, das Kerzenlicht schmeichelte ihr ebenso wie Davina. Es verlieh dem schönen Mädchen Charley, das an seiner anderen Seite saß, herrlich weiche Züge. Der Kerzenschein tauchte ihren Hals und die eine freie Schulter in einen schimmernden Farbton, der ihn an die üppigen Rubens-Gestalten in der Eremitage erinnerte. Trotz ihrer Schlankheit war sie nicht mager, ihre Haut war glatt, die Arme gerundet und das reizende Gesicht von einer erotisch wirkenden Fülle roter Haare eingerahmt.
Er hatte sie beim Schach gewinnen lassen. Gleich zu Anfang des Spiels wußte er bereits, daß sie ein hoffnungsloser Fall war. Trotzdem gab es bei ihr überraschende Momente, und am Ende der ersten Partie hatte sie ihn angesehen und vorwurfsvoll gesagt: »Sie haben mich absichtlich gewinnen lassen – Sie spielen viel zu gut, als daß Sie diesen letzten Zug nicht vorausgesehen hätten.«
»Ich habe ihn schon gesehen«, sagte er, »ich wollte nur feststellen, wie Sie spielen. Man muß die Gedanken des Gegners lesen können, wenn man ihn schlagen will.«
Sie hatte gelacht und die Figuren wieder aufgebaut. Sie hatte ein Lachen, das er nur schwer beschreiben konnte. Es gab ein altmodisches Wort dafür. Fröhlich. Sorglos und voller Heiterkeit. Sie spielten noch eine Partie, und als sie etwa die Mitte erreicht hatten, kam Davina herein. Sie goß sich einen Drink ein und sah ihnen einige Minuten zu. Sie wirkte blaß und steif. Sasonow spürte die Spannung, die zwischen den beiden Schwestern stand; sie verbarg sich allerdings meist hinter einer oberflächlichen Freundlichkeit, von der er sich jedoch nicht täuschen ließ. Davina hasste sie; er hatte noch nicht ergründet, wie Charley dazu stand. Ihre Gefühle waren noch schwerer erkennbar, weil sie scheinbar so offen zutage traten. Sie lachte und scherzte und neckte ihn; dabei flimmerte sie wie ein Stern im Familienkreis, während Davinas Abneigung nur allzu deutlich war. Er schlug Charley in der zweiten Partie und erreichte das Schachmatt, kurz bevor das Dinner serviert wurde.
Er mochte das englische Essen nicht; er fand es zu fade. In Halldale Manor sorgte die Privatköchin dafür, daß sein Geschmack zu seinem Recht kam. Er betrachtete ohne großen Appetit das Huhn in Weinsauce und das unvermeidliche, langweilige Gemüse. Er aß aus lauter Höflichkeit mehr, als er eigentlich wollte, und ließ sich von Captain Graham immer wieder das Weinglas nachfüllen. Er fühlte sich umgeben von einem hohen Maß von Wohlstand und gutem Geschmack. Auf dem Esstisch im Speisezimmer prangte das Familiensilber, und die Bilder und das Mobiliar waren typisch englisch. Nichts wirkte aufdringlich oder neu; eine leichte Patina gehörte dazu. Nichts verabscheuten die Grahams und ihresgleichen mehr als Gewöhnlichkeit und Protzigkeit. Mrs. Graham hatte ihm ein paar höfliche Fragen gestellt und sich dann in längeren Ausführungen über die Gartenarbeit ergangen. Er langweilte sich nicht, da das Gespräch keine Anforderungen an ihn stellte. Er lächelte nur und nickte, ohne genau zuzuhören.
Er hörte, wie Davinas Vater sagte: »Das war wirklich eine Überraschung, liebes Kind. Du hast uns schon lange nicht mehr besucht. Wie geht es Jim White?«
»Sehr gut«, antwortete Davina. Im Verhältnis zwischen Vater und älterer Tochter lag etwas Förmliches, das in ihrem Tonfall wie ein winziger Glassplitter eingebettet
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