Davina
noch wahnsinnig dabei, aber ich habe mein Versprechen gehalten. Wann halten Sie das Ihre? Und wo, zum Teufel, stecken Sie?«
»Was habe ich Ihnen denn versprochen?« fragte sie.
»Mir zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen«, antwortete er, und diesmal klang seine Stimme völlig ernst.
»Einen neuen Start zu versuchen.«
»Ich komme morgen ins Büro«, sagte sie. »Lassen Sie uns im Pub zusammen zu Mittag essen. Ich kann es kaum erwarten, den neuen Peter Harrington zu sehen.«
»Auch er kann es kaum erwarten, Sie wieder zu sehen«, erwiderte er. »Kommen Sie und retten Sie mich etwa um halb eins aus der Personalabteilung, okay?«
»Gut«, sagte Davina, »halb eins.«
Sie hängte ein, und er legte den Hörer auf. Sie kam ins Büro. Das hieß, daß sie sich irgendwo auf dem Land aufhielt. Er wußte nicht, wer das Gerücht über Halldale Manor in die Welt gesetzt hatte, aber es hielt sich hartnäckig, und bei Drinks auf dem Heimweg kam immer wieder das Gespräch darauf. Anders als bei anderen Gerüchten war dieses von einer Person in Umlauf gesetzt worden, die hoffte, eine Antwort auf die Frage zu erhalten. Er runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern, wo er zum ersten Mal davon gehört hatte. Das Stirnrunzeln vertiefte sich, als ihm einfiel, daß es von jemandem in Spencer-Barrs Büro ausgegangen war. Von einem jüngeren Mitarbeiter, der noch Farbbänder auswechselte und das alte Kohlepapier vernichtete. Alle erregten sich über den Brand und wollten wissen, ob es wahr sei, daß das Pflegeheim zu den Geheimunterkünften der Abteilung gehörte … Auf diese Weise hatte Peter zum ersten Mal davon gehört, von einem kleinen Handlanger, der wahrscheinlich gar nicht wußte, worum es ging. Harrington machte sich noch einen Kaffee und rieb mit einem nassen Schwamm den Flecken aus seiner Hose. Morgen um halb eins würde er Davina Graham sehen. Damit rechneten die Neunmalklugen bestimmt nicht.
Eine der Studentinnen aus der Soziologie-Vorlesung stieß ihre Freundin mit dem Ellbogen an. Sie warfen sich vielsagende Blicke zu, als sie sahen, daß Irina Sasonowa noch bei dem jungen Dozenten stehen blieb. Der Vorlesungssaal leerte sich, und das Mädchen sagte: »Da bahnt sich was an. Sie macht ihm große Kulleraugen und wird dauernd rot. Ob sie mit ihm schlafen will?«
»Vielleicht tut sie es bereits«, kicherte die andere. »So gut sind ihre Arbeiten nun auch wieder nicht.« Sie gingen, immer noch kichernd und schwätzend, hinter den anderen hinaus.
Poliakow wartete, bis Irina zu ihm ans Pult kam. Ihr Aussehen hatte ihn entsetzt. Ihr Gesicht wirkte grau und eingefallen; ihm kam sofort der Gedanke, daß sie krank gewesen sein müsse.
Der Aufsatz war fast unverständlich, als hätte sie gedankenlos irgendwelche Worte zusammengeschrieben. Auf die letzte Seite hatte sie mit fester Hand geschrieben: »Lenin war der Hohepriester der Religion des Proletariats.« Dieser Satz ergab mehr Sinn als alles andere, was sie geschrieben hatte.
»Irina«, sagte er. »Irina Sie sehen krank aus. Sagen Sie, was ist passiert?«
Tränen traten ihr in die Augen und rannen über ihre Wangen. Sie wischte sie nicht ab, sondern ließ ihnen freien Lauf.
»Meine Mutter ist in der letzten Woche verhaftet worden«, sagte sie mit leiser, bebender Stimme. »Sie haben sie mitten in der Nacht abgeholt.«
Jetzt war es an Poliakow, zutiefst erschrocken zu sein. »Die Nachricht, die ich Ihnen gegeben habe –«
»Sie hat sie vernichtet«, sagte Irina. »Sie haben nichts gefunden. Sie wird ihnen nichts sagen, um mich nicht zu gefährden.«
»Gott steh uns bei«, murmelte er. »Gott steh uns allen bei.«
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, erklärte das Mädchen. »Ich habe herausgefunden, warum man sie verhaftet hat. Ich war bei Antoni Wolkow.«
Poliakow starrte sie an. »Wolkow – Sie sind zu ihm gegangen, um sich bei ihm nach ihr zu erkundigen?«
»Er kam zur Beerdigung. Er war jahrelang der Vorgesetzte meines Vaters. Ich bin in sein Büro gegangen und habe mich geweigert, wieder zu gehen. Sie drohten mich zu verhaften, aber ich blieb einfach vor der Tür sitzen, bis er mich schließlich hereinkommen ließ. Er sagte mir, meine Mutter sei in eine Besserungsanstalt geschickt worden. Nicht ins Gulag, hat er mir versichert.« Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, aus der unverhohlener Hass sprach.
»Er war freundlich, geduldig, und er erklärte mir, daß meine Mutter über meinen Vater eine schwerwiegende Lüge erzählt habe. Daß
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