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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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die Frage der Kriegsentscheidung mit der »Judenfrage« zu verknüpfen.
    Der erste Artikel, »Wann oder Wie«, den Goebbels vorab Hitler zur Genehmigung vorlegte, 135 behandelte die heikle Frage des immer wieder als unmittelbar bevorstehend angekündigten, aber nun in weite Ferne gerückten Sieges im Osten. Goebbels unternahm hier den Versuch, seinen Lesern klar zu machen, dass es sich bei dem gegenwärtigen Krieg um einen Existenzkampf handele: Ginge der Krieg verloren, sei auch »unser nationales Leben überhaupt und insgesamt« verloren. Angesichts der ernsten Lage sei jede weitere Erörterung der Kriegsdauer unproduktiv und schädlich. Alle Anstrengungen hätten sich auf den Sieg zu konzentrieren: »Fragen wir nicht, wann er kommt, sorgen wir vielmehr dafür, dass er kommt.«
    Bereits am 3. November machte sich Goebbels an die Abfassung des zweiten großen Leitkommentars. 136 Bevor dieser erschien, trat erneut ein Ereignis ein, das geeignet war, das von Goebbels so bekämpfte Mitgefühl Berliner bürgerlicher und intellektueller Kreise mit den Juden der Reichshauptstadt zu wecken: Das Schauspieler-Ehepaar Gottschalk, das in einer so genannten Mischehe lebte, brachte sich um – ein aufsehenerregender Freitod, der Goebbels ausweislich seiner Tagebucheinträge zwischen dem 7. und dem 11. November stark beschäftigte. 137 In dem schließlich am 16. November 1941 im Reich veröffentlichten Artikel erinnerte Goebbels unter der Überschrift »Die Juden sind schuld!« an Hitlers Prophezeiung vom 30. Januar 1939: »Wir erleben eben den Vollzug dieser Prophezeiung, und es erfüllt sich damit am Judentum ein Schicksal, das zwar hart, aber mehr als verdient ist. Mitleid oder Bedauern ist da gänzlich unangebracht.« Mit seiner Formulierung, das »Weltjudentum« erleide »nun einen allmählichen Vernichtungsprozess«, stellte Goebbels klar, welches Schicksal die seit einigen Wochen aus deutschen Großstädten deportierten Juden letztlich erwartete.
    Der Artikel endete mit einem Dekalog von Verhaltensvorschriften für den Umgang mit den noch in Deutschland lebenden Juden; de facto ging es dabei um die öffentliche Bekanntgabe der – im Wortlaut nicht veröffentlichten – Polizeiverordnung, die Ende Oktober auf Initiative Goebbels’ erlassen worden war und den Kontakt mit Juden mit KZ-Haft bis zu drei Monaten bedrohte. »Jeder Jude ist ein geschworener Feind des deutschen Volkes […] Wenn einer den Judenstern trägt, so ist er damit als Volksfeind gekennzeichnet. Wer mit ihm noch privaten Umgang pflegt, gehört zu ihm und muss gleich wie ein Jude gewertet und behandelt werden«, hieß es drohend, bevor Goebbels noch einmal auf sein Grundthema zurückkam: »Die Juden sind schuld am Kriege. Sie erleiden durch die Behandlung, die wir ihnen angedeihen lassen, kein Unrecht. Sie haben sie mehr als verdient.«
    Goebbels sorgte für weitestmögliche Verbreitung dieses Textes: Er wurde, wie alle seine Reich -Artikel im Rundfunk verlesen, durch Teile der Presse nachgedruckt, und die entscheidenden Passagen wiederholte er wörtlich in einer Rede, die er am 1. Dezember vor der Deutschen Akademie hielt und als Broschüre verteilen ließ. 138 Die Botschaft wurde in der Bevölkerung offensichtlich verstanden: Die Meldungen aus dem Reich berichteten, der Artikel habe »starken Widerhall« gefunden, insbesondere die zehn Punkte am Schluss seien als »klar und aufrüttelnd« aufgefasst worden; aus kirchlich gebundenen Kreisen lägen »Gegenstimmen« vor. 139
    Zeitgleich machte offenbar die Partei auf breiter Front 140 das Ende Oktober durch die Gestapo verfügte und bereits exekutierte Kontaktverbot zu Juden allgemein bekannt. Als Victor Klemperer im November in der Straßenbahn von einer nichtjüdischen Bekannten angesprochen wurde, notierte er in seinem Tagebuch: »Eine tapfere Tat, zumal vor wenigen Tagen der Rundfunk, auf einen Goebbelsartikel gestützt, ausdrücklich vor jedem Verkehr mit Juden gewarnt haben soll.« 141
    Das Regime, so der Tenor der Kampagne, war nicht länger bereit, öffentlich bekundetes Missfallen gegenüber der Judenverfolgung oder Gesten der Solidarität mit den Verfolgten zu dulden: Das Verhalten der Bevölkerung gegenüber Juden hatte sich strikt im Rahmen derVerhaltensvorschriften zu bewegen, die für die kontrollierte Öffentlichkeit des »Dritten Reiches« vorgegeben waren. Darin kam ein dramatischer Wechsel in der öffentlichen Behandlung der Judenverfolgung zum Ausdruck: Noch Mitte September hatte das

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