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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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beschäftigt gewesen sei. Es scheint vielmehr umgekehrt gewesen zu sein: Je mehr Anlass es gab, sich über den weiteren Verlauf und den Ausgang des Krieges Sorgen zu machen, desto größer wurde die Angst, dass die Verfolgung der Juden nicht ohne Konsequenzen für die eigene Zukunft bleiben werde.

Erste Reaktionen der Bevölkerung auf die Deportationen
    Was lässt sich auf Grundlage des offiziellen Materials zur »Stimmung« über die Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die ersten Deportationen sagen? Orientiert man sich an den Meldungen aus dem Reich, der nationalen Zusammenfassung der SD-Berichterstattung, so wird man hier vergeblich Berichte über die Verschleppung von Juden aus Deutschland suchen. Die Schlussfolgerung, dies sei auf die Indifferenz der deutschen Bevölkerung zurückzuführen, wäre jedoch voreilig. Vielmehr wird hier deutlich, dass ein Thema, das in der von den Nationalsozialisten kontrollierten Öffentlichkeit tabu war – also in der Propaganda nicht aufgegriffen wurde und jeder öffentlichen Debatte entzogen war -, auch in der internen Stimmungsberichterstattung (zumindest auf Reichsebene) nicht auftauchte: Für das Un-Thema durfte kein Forum geschaffen werden.
    Wie wir in Goebbels’ Tagebuchnotizen gesehen haben, stieß das Thema jedoch keineswegs auf Desinteresse, wie etwa Kulka und Bankier glauben. 142 Leider verfügen wir nicht mehr über das Material, das Goebbels zu seinen teilweise wütenden Reaktionen veranlasste (es handelte sich im Wesentlichen um die Berichte der Reichspropagandaämter, die insgesamt als verloren gelten müssen), doch erlauben die lokalen und regionalen Berichte verschiedener Behörden gewisse Erkenntnisse darüber, ob die Bevölkerung die Verschleppungen zur Kenntnis nahm und wie sie darauf reagierte.
    Die Stapostelle Bremen stellte im November fest, dass zwar »der politisch geschulte Teil der Bevölkerung die bevorstehende [sic!] Evakuierung der Juden allgemein begrüßt« habe, jedoch »insbesondere kirchliche und gewerbliche Kreise […] hierfür kein Verständnis aufbringen und heute noch glauben, sich für die Juden einsetzen zu müssen. So wurden in katholischen und evangelischen Kreisen der Bekenntnisfront die Juden lebhaft bedauert. – In einer bekennenden Gemeinde, die sich fast ausschließlich aus sogenannten bürgerlichen Intelligenzkreisen zusammensetzt, brachten es zahlreiche Gemeindemitglieder fertig, Juden durch materielle Zuwendungen zu unterstützen. In der Geschäftswelt sind es insbesondere Firmen, die Juden beschäftigen und laufend Anträge stellen, die Juden behalten zu dürfen. Selbst angesehene Firmen scheuen sich nicht, in ihren Anträgen darauf hinzuweisen, dass sie nicht weiter könnten, wenn der bei ihnen beschäftigte Jude evakuiert würde.« 143
    Die Stapoleitstelle Magdeburg berichtete ebenfalls im November, dass »deutschblütige Personen nach wie vor freundschaftliche Beziehungen zu Juden unterhalten und sich mit diesen in auffälliger Weise in der Öffentlichkeit zeigen«. Da »die betreffenden Deutschblütigen durch ein derartiges Verhalten beweisen, dass sie auch heute noch den elementarsten Grundbegriffen des Nationalsozialismus verständnislos gegenüberstehen und ihr Verhalten als Missachtung der staatlichen Maßnahmen anzusehen ist«, müsse man »bei solchen Vorkommnissen den deutschblütigen Teil sowie den Juden in Schutzhaft nehmen« – ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Ende Oktober 1941 verhängte, jedoch nicht veröffentliche Polizeiverordnung über das Kontaktverbot mit Juden von der Gestapo bereits in die Praxis umgesetzt wurde. 144
    Einem Bericht aus der Kriegschronik der Stadt Münster ist zu entnehmen, dass auch hier die Deportationen Tagesgespräch waren. Wir kennen den Berichterstatter nicht, doch dürfen wir annehmen, dass er als Mitarbeiter der Chronik regimetreu war. Entsprechend sind selbstverständlich seine rein subjektiven Beobachtungen und Einschätzungen zu bewerten: »Ich gehöre heute zu denen, die noch zwei Kneipen aufsuchen und sich zwischen die Gäste am Tresen drängen. Da höre ich in der zweiten Kneipe an der Aegidiistraße, während ich zwischen mittleren Beamten, Handwerkern und Kaufleuten stehe, dass bis zum 13. dieses Monats alle Juden aus Münster heraus sein müssten. Die Nachricht wird sehr lebhaft besprochen. Überwiegend sind die Tresengäste mit der Maßnahme sehr zufrieden. Die Juden kämen alle nach dem Osten in große Arbeitslager, einmal, damit sie dort arbeiten

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