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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Regime offensichtlich seine antisemitische Propagandakampagne angesichts der negativen Reaktionen auf die Kennzeichnung eingedämmt und sich entschlossen, die Kennzeichnung der deutschen Juden in der offiziellen Propaganda nicht weiter zu thematisieren. Die Mitte Oktober 1941 einsetzenden, der Bevölkerung keineswegs verborgen bleibenden Deportationen wurden in der Inlandspropaganda ganz totgeschwiegen. Die Tatsache, dass die Propaganda Ende Oktober – versteckt in der ausgiebigen Kommentierung über die Judenverfolgung in Rumänien – sehr deutliche Hinweise auf das Schicksal der aus Deutschland Deportierten gab und offen von der Vernichtung der Juden zu sprechen begann, verlieh dem offiziellen Schweigen über die Deportationen aus Deutschland einen düsteren Hintergrund.
    Sodann verband Goebbels das Thema Kriegführung und Judenverfolgung im November 1941 in einer Weise, die klarstellte, dass Kritik an der Verfolgung künftig als Sabotage der Kriegsanstrengungen behandelt werden würde. Gleichzeitig wurde die für den Umgang mit Juden eingeführte KZ-Haft in Form einer dunklen Drohung publik gemacht: Man werde diejenigen, die sich zu Juden freundlich verhielten, wie Juden behandeln. Wir haben verschiedene Hinweise darauf, dass außerdem die Parteiorganisation in diesen Wochen dafür sorgte, das öffentliche Verhalten der Bevölkerung gegenüber Juden an die offiziellen Verhaltensnormen anzupassen: Goebbels’ Bemerkung in der Propagandakonferenz etwa, es sei hinsichtlich des Verhaltens gegenüber Juden in den Verkehrsmitteln Aufgabe der Partei, »hier dem einzelnen das richtige Taktgefühl und psychologische Einfühlungsvermögen anzuerziehen«, oder die Ausführungen des Stuttgarter Beobachters zum gleichen Thema.
    Um eine Vorstellung von der Wirkung dieser Kampagne vom Herbst 1941 auf die Bevölkerung zu erhalten, muss man sich den kumulativen Effekt der einzelnen Komponenten vor Augen halten. Offensichtlich gelang es Goebbels in diesen Wochen, durch eine Mischung aus antisemitischer Hetze, Vernichtungsankündigungen, beredtem Schweigen, Drohungen und Einschüchterung eine unheimliche und angstbeladene Atmosphäre zu schaffen. Es war vor allem diese Atmosphäre, die das öffentliche Verhalten der Bevölkerungsmehrheit gegenüber Juden in den kommenden Monaten äußerst effektiv ändern sollte.
    In der zweiten Jahreshälfte 1941 ging das Regime also dazu über, eine immer engere Verbindung zwischen der allgemeinen »Stimmung« der Bevölkerung, das heißt ihrer Einschätzung der Kriegsentwicklung, und der öffentlich bekundeten Einstellung der Menschen zur »Judenfrage« herzustellen. Da das Regime seit Beginn des Sommers 1941 große propagandistische Anstrengungen unternommen hatte, um den Krieg zum »Krieg der Juden« umzumünzen, registrierte es sehr aufmerksam, inwieweit militärische Rückschläge beziehungsweise ausbleibende Erfolge auch Auswirkungen auf die Einstellung der Bevölkerung zur »Judenfrage« hatten. Denn: Reagierte die Bevölkerung reserviert bis ablehnend auf die Verschärfung der Verfolgungsmaßnahmen gegen die deutlich als »innerer Feind« gebrandmarkten Juden, so musste dies als mangelnde Unterstützung der allgemeinen Kriegsanstrengungen gesehen werden.
    Die massive Propaganda verfehlte ihr Ziel nicht. Je weiter der Krieg voranschritt, desto mehr entwickelte die Bevölkerung ein Gespür dafür, dass, wer Kritik an der Verfolgung der Juden übte, zugleich die allgemeine Kriegspolitik des Regimes und seine Anstrengungen zur politischen Radikalisierung der Verhältnisse während des Krieges infrage stellte. Dies mag auch erklären, warum solche kritischen Äußerungen in den Spitzelberichten des Regimes von nun an kaum noch zu finden sind. Dort aber, wo Kritik an der Judenverfolgung noch so laut geäußert wurde, dass sie von der »Stimmungsberichterstattung« erfasst wurde, war sie bezeichnenderweise häufig verbunden mit Besorgnissen über das eigene Schicksal im Falle eines negativen Kriegsausgangs.
    Wenn man aber davon ausgeht, dass die vom Regime konstruierte Verbindung von »Krieg« und »Judenverfolgung« in der Bevölkerung in einem gewissen Grade verfing, dann wird eine bisher weithin akzeptierte Annahme über die Einstellung der Deutschen zur Judenverfolgung brüchig: die Behauptung, die deutsche Bevölkerung sei gegenüber dem Schicksal der Juden indifferent gewesen, da sie in erster Linie mit der weiteren Entwicklung des Krieges und dessen Auswirkungen auf die eigene Existenz

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