"Davon haben wir nichts gewusst!"
einordneten. Das erforderte nur ein Minimum an Kommunikation und war daher auch unter den Bedingungen der Diktatur zu bewerkstelligen. Für die Informanten der Stimmungsberichterstattung war dieser sich an tradierfähige politisch-moralische Wertsysteme anlehnende, auf gegenseitige Bestätigung abzielende Meinungsaustausch nur in gewissem Umfang zugänglich; daher berichteten sie denn auch vornehmlich über Opposition aus dem kirchlichen, bildungsbürgerlichen oder ländlichen Milieu, aber auffällig weniger aus dem ihnen eher verschlossenen, im Wesentlichen in den Untergrund abgedrängten Milieu der sozialistischen Arbeiterbewegung.
Allerdings blieb die Rezeption der Judenverfolgung dann auch an solche traditionellen Erklärungsmuster und Referenzsysteme gebunden – sie blieb statisch, konnte die qualitativ neuartige Dimension der NS-Judenverfolgung nur unzureichend erfassen und bot keine Basis zur Formierung eines gegen die Verfolgung gerichteten Diskurses. Alle Versuche, Widerspruch zur Politik des Regimes über den Rahmen solcher halböffentlichen Situationen beziehungsweise über Milieugrenzen hinaus öffentlich darzustellen, mussten am nationalsozialistischen Monopolanspruch auf Öffentlichkeit scheitern. Sie wurden in der Regel durch den Repressionsapparat erbittert verfolgt.
Die nationalsozialistische Kontrolle der Öffentlichkeit schloss aber nicht nur das Hervortreten von gegnerischen Stimmen weitgehend aus, sondern sie war darauf angelegt, eine breiter fundierte oppositionelle, alternative oder zumindest unabhängige Meinungsbildung von vornherein erheblich zu erschweren, wenn nicht gänzlich zu verhindern. Denn unter den Bedingungen der Diktatur fehlte neben dem Zugang zu Nachrichten außerhalb des offiziellen Informationsangebots auch das zur oppositionellen oder nur unabhängigen Meinungsbildung unerlässliche Element des relativ unbeschränkten Meinungsaustauschs. Es funktionierten gerade jene Mechanismen nicht, die für einen in der Öffentlichkeit vor sich gehenden Meinungsbildungsprozess typisch und wesentlich sind: die Chance, sich ungehindert gesprächsweise zu vergewissern, dass die eigenen Ansichten von anderen geteilt werden, die Möglichkeit, unterschiedliche Meinungsvarianten »auf einen Nenner« zu bringen; die Bildung von begrifflichen Abstraktionen, Schlagwörtern, Parolen, die Zuspitzung von argumentativen Gegensätzen, die Gelegenheit, die eigene Argumentation im Lichte von Gegenargumenten zu differenzieren, et cetera.
Die Lektüre von Tagebüchern und Briefen jener Zeit offenbart beispielsweise die Schwierigkeiten der weitgehend voneinander isolierten Individuen, der Flut von Informationen und autoritativen Deutungen der offiziellen Propaganda eine Gegenposition entgegenzustellen, von der man sicher sein konnte, dass sie von vielen geteilt wurde – ein Atomisierungseffekt, der auf die Monopolisierung des öffentlichen Meinungsaustauschs durch das Regime zurückzuführen ist. »Wer kann«, so Victor Klemperers bezeichnende Klage kurz vor Kriegsbeginn 1939, »Volksstimmung beurteilen, bei 80 Millionen, Unterbindung der Presse und allgemeiner Angst vor dem Mundauftun?« 7
Unweigerlich stellt sich vor diesem Hintergrund die prinzipielle Frage, ob eine solche alternative Meinungsbildung – beziehungsweise die »tatsächliche« Stimmung und Einstellung der Bevölkerung hinter der Fassade der vom Regime künstlich hergestellten »Öffentlichkeit« – überhaupt erfasst werden kann. Kommt der Versuch, die Reaktion der deutschen »öffentlichen Meinung« oder der »deutschen Gesellschaft« auf die Judenverfolgung zu ermitteln, die »Volksmeinung« herauszufinden, nicht der Jagd nach einem Phantom gleich? Die »deutsche Gesellschaft«, tatsächlich atomisiert in Individuen, Familien, nachbarliche Gemeinschaften, Freundescliquen und Milieureste, verfügte gar nicht mehr über ausreichende Kommunikationskanäle und diskursive Mechanismen, um unabhängig vom Regime selbstständig ein nachweisbares Meinungsbild herzustellen, »öffentlich« und deutlich sichtbar manifestiert. Ist es also überhaupt sinnvoll, von der Existenz eines solchen alternativen, unabhängig von der Öffentlichkeitspolitik des Regimes vorhandenen Meinungsbildes, einer »Volksmeinung«, auszugehen? 8
Diese Schwierigkeiten, die »wirkliche« Stimmung und Einstellung der Bevölkerung zu erfassen, stellen sich nicht nur dem rückschauenden Betrachter, sondern sie waren bereits für die zeitgenössischen Beobachter
Weitere Kostenlose Bücher