"Davon haben wir nichts gewusst!"
umfangreichen Berichtsmaterials ist daher zunächst einmal eine kritische Würdigung der Ausgangsbedingungen: Wie lassen sich Prozesse kollektiver Informationsaufnahme und Meinungsbildung unter den Bedingungen der Diktatur mit erheblichem Abstand überhaupt rekonstruieren, und in welcher Terminologie lassen sie sich darstellen? Gab es eigentlich so etwas wie eine »öffentliche Meinung« oder eine »Volksstimmung« hinter der Fassade der vom Regime dirigierten Öffentlichkeit? Wenn ja: Wie sind Volksstimmung, Öffentlichkeit und öffentliche Meinung unter den Bedingungen der Diktatur zu definieren?
Und wie ist im Zuge dieser Quellenkritik das Thema zu deuten, das in der bisherigen Diskussion ganz im Zentrum stand: das auffallende Schweigen der Berichte zu wesentlichen Aspekten der Judenverfolgung, insbesondere in der Phase der »Endlösung«? Spiegelt dieses Schweigen wirklich die »Indifferenz« der Bevölkerung zur »Judenpolitik« des Regimes wider, und wie wäre diese »Indifferenz« zu interpretieren?
Auf diese wichtigen methodischen Fragen wird zunächst in einem eigenständigen Kapitel eingegangen, bevor wir uns den einzelnen Phasen der Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945 zuwenden.
»Öffentlichkeit« und »Volksmeinung« unter der NS-Diktatur
Unter Öffentlichkeit versteht man im Allgemeinen eine im Prinzip jedermann zugängliche Sphäre, in der Individuen als Mitglieder eines »Publikums« relativ frei miteinander über allgemein interessierende Themen kommunizieren. Ungehinderter Zugang zu Informationen, freie Meinungsäußerung und gegenseitige Duldung unterschiedlicher Ansichten konstituieren Öffentlichkeit als ein »Kommunikationsforum für alle, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen«. 1
Öffentlichkeit, so hat Jürgen Habermas in seiner grundlegenden Studie zum »Strukturwandel der Öffentlichkeit« herausgearbeitet, wird seit den Anfängen bürgerlich-liberalen Denkens als Grundvoraussetzung für die Bildung »öffentlicher Meinung« begriffen, die sich wiederum als kollektiver und diskursiv voranschreitender Lernprozess darstellen lässt. Die somit auf rational nachvollziehbare Weise zustande kommende öffentliche Meinung gilt in der modernen, westlich geprägten Gesellschaft als unverzichtbare »kritische Instanz im Verhältnis zur normativ gebotenen Publizität des Vollzugs politischer und sozialer Gewalt«. 2
Dieses der Vorstellungswelt des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts abgewonnene Idealmodell eines »räsonierenden Publikums« kann im Zeitalter der Massenmedien nur mit großen Einschränkungen aufrechterhalten werden. Wie Habermas gezeigt hat, gerät die öffentliche Meinung im Zuge des Strukturwandels der Öffentlichkeit immer stärker unter den Einfluss von organisierten Interessengruppen, Medienkonzernen und kommerziellen Medienstrategien und läuft daher Gefahr, als bloße »rezeptive Instanz im Verhältnis zur demonstrativ und manipulativ verbreiteten Publizität« für vielfältige Interessen in Dienst genommen zu werden. 3
Wie immer man das tatsächliche Ausmaß moderner Meinungsmanipulation einschätzt: Wichtig bleibt, dass die modernen demokratischen Gesellschaften weiterhin an dem Anspruch festhalten, sie verfügten über das Regulativ einer funktionierenden Öffentlichkeit und einer öffentlich vor sich gehenden Meinungsbildung; ja, dieser Anspruch stellt eine der wesentlichen Legitimationsquellen demokratisch verfasster Gesellschaften dar.
Demgegenüber, das dürften diese kurzen Überlegungen bereits verdeutlicht haben, erscheint der Begriff der »Öffentlichkeit« in Bezug auf den Nationalsozialismus als vollkommen unangebracht. Denn wie andere moderne Diktaturen schlossen die Nationalsozialisten den unbeschränkten Zugang zu Informationen, die freie Meinungsäußerung und die konkurrierende Pluralität von Meinungen aus Prinzip aus.
Wenn also hier der Begriff »Öffentlichkeit« in Bezug auf den Nationalsozialismus benutzt wird, dann ist damit die durch das Regime inszenierte, kontrollierte und manipulierte Öffentlichkeit gemeint, mithin der Resonanzboden für seine Propaganda. Öffentlichkeit im Nationalsozialismus ist demnach der Raum, in dem die durch das Regime propagierten Leitbilder und Deutungsmuster reproduziert wurden, eine Sphäre, in der die akklamatorische Zustimmung zur Politik des Regimes demonstriert wurde.
Trotz des manipulativen Charakters dieser mit aller Gewalt »hergestellten« Öffentlichkeit spricht
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