"Davon haben wir nichts gewusst!"
gravierend: Die Spitzel von SD und Gestapo sahen sich wie die Vertrauensleute der Exil-SPD mit demselben Problem konfrontiert. In den außerhalb Deutschlands zusammengestellten Berichten der Sopade wird dieses Dilemma bereits 1934 auf den Punkt gebracht: »Es gibt in Deutschland nicht nur keine öffentliche Meinung, es gibt auch keine Gruppenmeinung mehr. Das Individuum ist vereinzelt, denkt und urteilt für sich. Das gilt selbst für die Mitglieder der NSDAP. Die Zwangszusammenfassung in einer Organisation bedeutet in Wahrheit eine Atomisierung der politischen Beurteilung und Gesinnung.« 9 Es sei daher besser, so die Sopade 1936, statt von einer öffentlichen von einer »nichtöffentlichen Meinung« zu sprechen. Welchen Wert haben Quellen wie diese dann überhaupt für unsere Fragestellung? 10
Die Deutschland-Berichte der Sopade: Eine authentische Quelle für die »Judenpolitik« des Regimes?
Die »Deutschland-Berichte der Sopade«, des nach Prag ausgewichenen Vorstands der Exil-SPD, erschienen zwischen April 1934 und April 1940 und boten monatliche Zusammenstellungen von Berichten und Analysen über die Situation in Deutschland. Durch die 1980 erschienene Reprint-Ausgabe sind diese Berichte weit verbreitet und werden relativ häufig als Quelle zur Einstellung der Bevölkerung im nationalsozialistischen Deutschland zitiert. Als Dokumente, die vom »anderen Deutschland« erstellt wurden, scheinen sie den Berichten, die zur gleichen Zeit durch Dienststellen des NS-Regimes verfasst wurden, in mancherlei Hinsicht überlegen. Sie eröffnen vermeintlich einen vergleichsweisen unverstellten Blick auf den deutschen Alltag. 11
Für den quellenkritischen Umgang mit den Deutschland-Berichten ist es jedoch unerlässlich, sich mit den Entstehungsbedingungen dieser zeitgenössischen Publikation und den Absichten ihrer Urheber näher zu beschäftigen. Dokumente hierzu sind in ausreichendem Umfang vorhanden: Sie befinden sich im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn.
Redakteur der Deutschland-Berichte der Sopade war der 1902 geborene Erich Rinner, zwischen 1925 und 1933 in verschiedenen Funktionen als Referent für die Sozialdemokratische Reichstagsfraktion tätig und seit April 1933 Mitglied des Parteivorstands der SPD. 12 Ihm zur Hand ging Fritz Heine, der außerdem die Widerstandsaktivitäten im Reich koordinierte.
Die Deutschland-Berichte kamen folgendermaßen zustande: Ausgangsmaterial waren Beobachtungen von Anhängern der Sozialdemokratischen Partei, die diese – in mündlicher oder schriftlicher Form – an ein Netz von insgesamt elf Grenzsekretären und anderen Vertrauensleuten weitergaben, das die Exil-SPD im benachbarten Ausland unterhielt. 13 Vor ihrer Veröffentlichung wurden diese Berichte einem zweistufigen Auswahl- und Redaktionsprozess (zunächst durch die Grenzsekretäre, dann durch Rinner und Heine) unterzogen. Wesentlich ist aber vor allem, dass ein großer Teil der in den Deutschland-Berichten nachzulesenden Texte erst jenseits der deutschen Grenze entstand: Sie wurden von den Grenzsekretären oder von Rinner und Heine selbst auf der Grundlage eingehender Befragungen der angereisten Informanten geschrieben. Dabei wurde ein standardisierter Fragebogen verwendet, und Grenzsekretäre, Vertrauensleute und Informanten wurden angehalten, ihre Berichterstattung nach Möglichkeit nach einem vorgegebenen Schema abzufassen. 14
Nach welchen Kriterien wurden die Berichte redigiert beziehungsweise die mündlichen Berichte der Informanten überhaupt in schriftliche Form gebracht? Zunächst ging es um die Sicherheit der Informanten: Durch stilistische Überarbeitungen sollte den Berichten ein allzu individueller Charakter genommen werden, Ortsnamen und andere Details wurden fortgelassen oder geändert. Vor allem aber waren sich Rinner und Heine darüber im Klaren, dass die Berichterstattung ihrer Informanten notwendigerweise einseitig war, da diese aus dem sozialdemokratischen Milieu stammten; sie verkehrten hauptsächlich mit Regimegegnern oder Unzufriedenen und verfügten kaum über intime Kenntnis der Verhältnisse in anderen Sozialmilieus. Daher, so Rinner und Heine, schätzten ihre Informanten die Situation in Deutschland zu optimistisch ein; die beiden waren deshalb bemüht, die Texte in dieser Hinsicht abzumildern.
Um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie Rinner auf die Entstehung der Berichte Einfluss nahm, sei aus einer seiner zahlreichen Instruktionen an einen der Grenzsekretäre zitiert: »Die
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