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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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einiges dafür, den Begriff selbst nicht aufzugeben. Nicht nur weil die Nationalsozialisten den Begriff Öffentlichkeit weiterhin benutzten; 4 wesentlicher ist, dass die durch den Nationalsozialismus manipulativ hergestellte Öffentlichkeit – die öffentlich dokumentierte Zustimmung der Massen zur Politik des Regimes – zu den Grundpfeilern der Diktatur gehörte. In diesem Sinne fand unter dem NS-Regime tatsächlich ein weitreichender »Strukturwandel der Öffentlichkeit« statt.
    Was die von den Nationalsozialisten hergestellte Öffentlichkeit anbelangt, so ist nicht nur an die Kontrolle der Massenmedien – Presse, Kino, Rundfunk, Werbung et cetera – zu denken, sondern auch daran, dass das öffentliche Erscheinungsbild des so genannten Dritten Reiches systematisch nationalsozialistischen Normen angepasst wurde. Die Nationalsozialisten verwandten zum einen große Anstrengungen darauf, den öffentlichen Raum durch ihre Rituale und Symbole zu beherrschen: sowohl temporär durch die Straßen-Dekoration anlässlich nationalsozialistischer Feiern und durch die symbolische »Ausrichtung« großer Massen bei Appellen und Aufmärschen als auch durch die Umgestaltung öffentlicher Räume vermittels einer repräsentativen Herrschaftsarchitektur, welche die Formierung der Massen permanent zum Ausdruck bringen sollte. 5 Zum anderen verlangte das Regime der allgemeinen Bevölkerung im Alltag bestimmte Verhaltensweisen ab, durch die diese – öffentlich – ihre Zustimmung zum Regime dokumentierte: mittels Abzeichen und Uniformen, durch den öffentlich entbotenen »Hitler-Gruß«, das Hissen der Hakenkreuzflagge, das erzwungene Innehalten und Zuhören während öffentlicher Rundfunkübertragungen, den Besuch von Parteiveranstaltungen, durch Spendenbereitschaft bei Straßensammlungen et cetera.
    Doch die Demonstration von Zustimmung war nur die eine Seite der Medaille; die Regulierung der Öffentlichkeit umfasste auch die konsequente Verfolgung abweichender Meinungsäußerungen, einschließlich der Ausschaltung alternativer Informationsquellen, also die Weitergabe unliebsamer Gerüchte und Witze, die Verbreitung nicht autorisierter Nachrichtendienste, das Einsickern von unwillkommenen Informationen aus dem Ausland. Das galt erst recht während des Krieges, als die Weitergabe von Nachrichten ausländischer Rundfunksender mit der Todesstrafe geahndet werden konnte. Vorgegangen wurde nicht nur gegen offene, verdeckte oder symbolische regimekritische Stellungnahmen, sondern das Regime demonstrierte seine Herrschaft über die Öffentlichkeit auch durch seine Bemühungen, als provokant beziehungsweise »undeutsch« empfundene Kleidung oder unkonventionelles Auftreten öffentlich zu verbannen – dies jedoch nicht immer mit Erfolg. 6
    Selbstverständlich wäre es naiv anzunehmen, dass solche abweichenden Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen vollkommen oder auch nur annähernd vollkommen hätten unterdrückt werden können. Aus mehr als zwei Jahrzehnten Forschung zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der NS-Diktatur, zur »Volksmeinung« jener Zeit wissen wir, dass die Bevölkerung des Deutschen Reiches zwischen 1933 und 1945 nicht im Zustand totalitärer Uniformität lebte, sondern dass es in einem erheblichen Umfang Unzufriedenheiten, abweichende Meinungen und divergierende Verhaltensweisen gab. Es war jedoch ein besonderes Charakteristikum der deutschen Gesellschaft unter dem NS-Regime, dass solche Bekundungen von Widerspruch vor allem im privaten, höchstens im halböffentlichen Bereich (also auf den Kreis von Freunden und Kollegen, den Stammtisch, die unmittelbare Nachbarschaft beschränkt) erfolgten beziehungsweise innerhalb noch bestehender Strukturen traditioneller sozialer Milieus, die sich gegenüber der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft behaupten konnten – also etwa innerhalb von Pfarrgemeinden, in dörflichen Nachbarschaften, in Zirkeln der konservativen Elite, in bürgerlichen Verkehrskreisen, in nicht zerstören Reststrukturen des sozialistischen Milieus. Hier war es möglich, die Verfolgung entweder als Verletzung christlich-humanitärer Grundsätze, als mit den hohen Standards deutscher Kultur unvereinbar oder als Ablenkung vom Klassenkampf zu kritisieren.
    Diesen in der Halböffentlichkeit überdauernder Milieus nachweisbaren abweichenden Meinungen war gemeinsam, dass sie die Judenverfolgung in traditionelle, aus der Zeit vor 1933 stammende Erklärungsmuster oder moralische Referenzsysteme

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