"Davon haben wir nichts gewusst!"
setzte Rinner Sollmann im März 1936 auseinander, zu »einer indirekten Beeinflussung der öffentlichen Meinung in der Welt dadurch zu gelangen, dass sie [die Berichte; P. L.] an maßgebende Persönlichkeiten und Institutionen herankommen.« 23 Die Deutschland-Berichte sind damit Teil des verzweifelten Kampfes der deutschen Emigration gegen die relativ starke Stellung des NS-Propagandaapparates auf den internationalen Nachrichtenmärkten und gegen die Mitte der dreißiger Jahre zunehmenden Tendenzen der nichtdeutschen Medien, auch auf die »positiven« Aspekte des NS-Systems einzugehen und die »Normalität« des »Dritten Reiches« zu betonen. Sie sind ein Stück aufklärerischer Gegenpropaganda, und es wäre vor diesem Hintergrund naiv, davon auszugehen, dass es den Herausgebern der Deutschland-Berichte nur darum gegangen wäre, einfach ein getreues Bild der Situation in Deutschland zu entwerfen.
Neben den propagandistischen Motiven spielten außerdem finanzielle Erwägungen eine Rolle. Die Berichte ließen sich nur aufrechterhalten, wenn möglichst viele Abonnenten gewonnen wurden, denn aus Eigenmitteln des Exilvorstandes waren sie nicht zu finanzieren. Dazu noch einmal Rinner in seinem Brief an Sollmann: »Wir versuchen z.B. jetzt, die Weltpresse für unsere Berichterstattung zu interessieren und sie zu veranlassen, unsere Berichte laufend als Informationsquellen zu benutzen. Das hat natürlich nur Aussicht auf Erfolg, wenn wir nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ vorbildliche Arbeit leisten. Schließlich sind die Berichte schon heute der wesentlichste Tätigkeitsnachweis für uns, und damit ist nicht ausgeschlossen, dass sie auch eine gewisse finanzielle Bedeutung für uns bekommen können.«
Das wirkte sich unter anderem auf die Berichterstattung der Deutschland-Berichte über die Judenverfolgung aus. So schrieb Rinner im Januar 1938 an den im Londoner Exil lebenden Salomon Adler-Rudel, der bis 1934 eine führende Rolle in der jüdischen Wohlfahrtsarbeit in Deutschland gespielt hatte, er glaube, »dass wir mit unserer Berichterstattung über den Terror gegen die Juden vor allem in England und Amerika an Kreise herankommen, die von der jüdischen Aufklärungsarbeit nicht unmittelbar erfasst werden. Andererseits kann ich nicht leugnen, dass die neue Form des Juden-Terrors es auch unseren Berichterstattern schwer macht, zuverlässige Tatsachenberichte beizubringen, als bisher.« Rinner bat daher Adler-Rudel, ihm seinerseits »Tatsachenberichte« zur Verfügung zu stellen, die als »wertvolle Ergänzung unseres Berichtsmaterials« dienen könnten. 24
Der Brief macht weiter deutlich, dass Rinner nach Wegen suchte, durch eine thematische Schwerpunktverlagerung der Deutschland-Berichte deren Abonnentenkreis zu vergrößern. Er ist ein wesentlicher Hinweis darauf, dass eine Zunahme der Beiträge zur »Judenfrage« in den Deutschland-Berichten nicht unbedingt in erster Linie etwas über die zunehmende Relevanz dieser Frage für die NS-Politik oder für die deutsche Bevölkerung aussagt; solche Veränderungen können auch auf die Publikationsstrategie des Herausgebers Erich Rinner zurückgehen.
Die offiziellen Stimmungs- und Lageberichte
Den größten Quellenfundus stellen jedoch die Stimmungs- und Lageberichte dar, die von verschiedenen Dienststellen des Regimes erstellt wurden. Bevor wir ihren Wert erörtern, sollen zunächst einmal die wichtigsten Berichtsarten kurz vorgestellt werden.
Die Gestapo-Berichte: Im Zuge des Aufbaus der Geheimen Staatspolizei und ihrer Herauslösung aus der übrigen Polizei und inneren Verwaltung wurde bereits im Jahre 1933 ein umfangreiches Berichtswesen eingeführt. Im Februar 1933 verpflichtete das preußische Innenministerium die politischen Landeskriminalpolizeistellen – aus denen die Gestapostellen hervorgehen sollten -, dem Landeskriminalamt für die politische Polizei, dem späteren Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa), »sämtliche Beobachtungen und Feststellungen politischer Art, die nicht rein örtlicher Natur sind«, zu melden; 25 kurz darauf wurde der Rhythmus auf zwei Berichte pro Monat festgelegt, 26 es scheint sich aber bald eine monatliche Berichterstattung eingebürgert zu haben. 27
Außerdem mussten seit August 1933 »Ereignismeldungen« über alle politischen Straftaten mit Toten oder Verletzten sowie über alle Angriffe auf die NSDAP verfasst werden. 28 Das Berichtswesen wurde im Dezember 1933 neu geregelt, indem eine bereits für November 1933
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