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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Erfahrungen der letzten Monate in allen anderen Bezirken haben gezeigt, dass man sich bei der Berichterstattung nicht allein auf schriftliche Mitteilungen verlassen kann. Es ist vielmehr wichtig, diese schriftlichen Berichte laufend dadurch zu ergänzen, dass die mündlichen Berichte, die die Freunde bei Grenzzusammentreffen machen, aufgezeichnet werden. […] Wir bemühen uns, durch zweckmäßige Fragestellung jeden Freund möglichst ausführlich zum Reden zu bringen und dann das Gesagte möglichst unverfälscht schriftlich niederzulegen. […] Man muss in Rechnung stellen, dass das Ausdrucksvermögen und die Schreibgewandtheit unserer meisten Freunde nicht groß genug ist, als dass sie alles das wirklich selbst zu Papier bringen könnten, was sie zu sagen haben.« 15
    Die redaktionelle Arbeit in Prag umfasste jedoch nicht nur die Auswahl und Bearbeitung der Texte, sondern auch ihre Zusammenstellung: Rinner und Heine wollten durch die schwerpunktmäßige Zusammenfassung mehrerer Berichte in einzelnen Abschnitten der »Deutschland-Berichte« bewusst Wirkung erzielen. 16
    Die Authentizität der Deutschland-Berichte war parteiintern nicht unumstritten: Wilhelm Sollmann, der ehemalige Chefredakteur der Deutschen Freiheit , der sozialdemokratischen Zeitung, die bis zum Übergang des Saargebiets an Deutschland in Saarbrücken erschien, äußerte sich im April 1936 gegenüber Rinner freimütig, die »Berichterstattung aus dem Reich [sei] beinahe wertlos. […] Die tapferen Genossen, die drüben ihre bewundernswerte illegale Arbeit leisten, sind zum allergrößten Teil für eine wirklich wertvolle Berichterstattung ungeeignet. Es sind Leute, die nur in einem sehr kleinen Umkreise leben und ihrer Vorbildung und ihrer Tätigkeit nach nicht in der Lage sind, die großen entscheidenden Zusammenhänge zu erkennen. Was sie einschicken, sind fast ausnahmslos kleine und kleinliche Ereignisse, die etwa nach der Art ausgewählt werden, wie man früher für den lokalen und Provinzteil eines Parteiblattes berichtete.« 17
    Rinner konzidierte dies in einem Antwortschreiben und erläuterte: »Die Verfolgung der großen entscheidenden Zusammenhänge ist meiner Meinung nach unsere Aufgabe, eine Aufgabe, die nach meiner persönlichen Erfahrung selbst von qualifizierten Menschen eher draußen als drinnen erfüllt werden kann. […] Entscheidend ist, dass bei der Beschaffung solcher Einzelmeldungen dreierlei beachtet wird: 1.) Es müssen wirkliche Tatsachen sein, nicht bloß ›Eindrücke‹, Stimmungsbericht usw., 2.) es müssen möglichst viel [sic!] Mitteilungen sein, damit sich aus der Fülle der Einzelheiten ein Gesamtbild formen lässt, 3.) die Beschaffung der Nachrichten muss möglichst systematisch und planmäßig erfolgen, soweit die entgegenstehenden Schwierigkeiten es irgendwie zulassen.« 18 In einem früheren Scheiben an Sollmann hatte Rinner bereits deutlich gemacht, er gehe davon aus, »dass jede Emigration, je länger sie dauert, der Gefahr ausgesetzt ist, einer Illusionspolitik zu verfallen und demgemäß nicht mehr ernst genommen zu werden. Ich setze mir mit den Berichten bewusst die Aufgabe, das Abgleiten in eine solche Illusionspolitik zu verhindern und damit gleichzeitig zu verhindern, dass uns schließlich dieselbe mitleidige Geringschätzung zuteil wird, wie sie anderen Emigrationen nicht erspart worden ist.« 19
    Rinner verstand seine redaktionelle Arbeit also vor allem als ein notwendiges Korrektiv an dem ihm vorliegenden Basismaterial 20 – zumal, und das ist für die quellenkritische Analyse der Deutschland-Berichte entscheidend, die Berichte zur Publikation vorgesehen waren. Sie erfuhren eine relativ große Verbreitung: Neben der internen Information für den Parteivorstand und verkleinerten Sonderausgaben, die für die Genossen ins Reich geschmuggelt wurden, erschienen die vollständigen Berichte in einer Auflage von mehreren hundert Exemplaren, seit 1937 beziehungsweise 1938 auch in (gekürzten) englischen und französischen Ausgaben. 21 Zu den Abonnenten gehörten vor allem Zeitungsredaktionen, Publizisten, wissenschaftliche Einrichtungen und einzelne Akademiker, sozialistische Organisationen und Multiplikatoren. 22
    Es handelte sich im Wesentlichen also um ein publizistisches Produkt, man versuchte, eine sich authentisch gebende, das heißt direkt aus Deutschland kommende Alternative zu den NS-Nachrichtendiensten und zur Berichterstattung der internationalen Presse aus Deutschland aufzubauen. Es ging darum, so

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