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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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beschrieb in einem Brief vom 26. Januar 1942 die fortlaufenden Deportationen aus Berlin. Bis Ende 1941 habe man von den nach Lodz Deportierten noch Briefe erhalten, doch jetzt sei die Postzustellung eingestellt. Von den nach Minsk und Riga Deportierten habe man vereinzelt Nachrichten erhalten, die über die Feldpost durchgeschmuggelt worden seien; von den am 17. November nach Kowno Verschleppten habe man jedoch nie etwas gehört, und es sei das Gerücht weit verbreitet, dass diese Menschen »unterwegs erschossen oder sonstwie ermordet worden sind«. 118
    Die in Marburg lebende Schriftstellerin Lisa de Boor, die sich bereits im Dezember 1941 äußerst besorgt über die Deportation von Juden nach Polen gezeigt hatte, erwähnte 1943 die »Judenermordung« in ihrem Tagebuch in einer Weise, die zeigt, dass es sich für sie mittlerweile um eine unbestreitbare Tatsache handelte. 119 Die damals 15 Jahre alte Schülerin Lilo G. schrieb im August 1943 eher beiläufig in ihr Tagebuch: »Mutti erzählte neulich, die Juden seien in den Lagern zum größten Teil umgebracht worden, aber ich kann es nicht glauben. Dass sie aus Deutschland raus sind, ist gut, aber sie gleich zu ermorden!« 120
    Im Folgenden soll anhand einer Reihe von Beispielen gezeigt werden, wie es einzelnen Personen gelang, Informationen über den Massenmord zu sammeln, wie schwierig es aber auch für sie war, diese Bruchstücke zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen.
    Aus den Aufzeichnungen Victor Klemperers wird deutlich, dass der Dresdner Romanist zwar in der Lage war, das Gesamtausmaß der systematischen Ermordung der Juden in groben Umrissen zu erfassen. Viele Einzelheiten blieben ihm jedoch verborgen. Seine besondere Situation, sein Leben als ein von der Verfolgung tödlich Bedrohter, aber auch seine aufmerksame Analyse der Sprache, die in offiziellen Stellungnahmen des Regimes zur »Judenfrage« verwandt wurde, ermöglichten es ihm, die Zentralität der Judenverfolgung innerhalb der NS-Politik und den Zusammenhang von Radikalisierung der Kriegsführung und Radikalisierung des Judenmordes zu erkennen. 121 Klemperer wurde klar, dass das Ziel des Regimes in der »gänzlichen Vernichtung der Juden« bestand. 122 Er stützte sich vor allem auf die mündlich übermittelten Informationen, die in der immer kleiner werdenden Gruppe der Dresdner Juden ausgetauscht wurden und die sich aus Berichten von Leidensgenossen aus anderen Städten, aus Erzählungen von Soldaten und befreundeten »Ariern« sowie aus Meldungen ausländischer Rundfunkstationen speisten. So war Klemperer außerordentlich gut über die Deportationen informiert und in der Lage, sich einen Gesamtüberblick über das Ausmaß der Verschleppungen aus dem Reich zu verschaffen. Ihm war von Anfang an bewusst, dass die Deportierten ein katastrophales Schicksal erwartete. 123
    Im Januar 1942 erfuhr er, aus dem Reich evakuierte Juden seien in Riga erschossen worden. 124 Er hörte mehrfach von den Massenexekutionen in Osteuropa und berichtete, Erzählungen über deutsche Judenmorde in Polen seien weit verbreitet. 125 Von einem Fahrer einer im Osten eingesetzten Polizeieinheit erhielt er Einzelheiten über das Massaker an sowjetischen Juden in Babij Yar bei Kiew. 126 Er hörte von dem Attentat der Gruppe um Herbert Baum auf die Berliner Ausstellung »Das Sowjetparadies« und von den anschließenden Geiselnahmen und Erschießungen jüdischer Bürger. 127
    Im März 1942 wusste Klemperer von der Existenz des KZ Auschwitz; er ging davon aus, dass eine Inhaftierung dort innerhalb kürzester Zeit zum Tod führte. 128 1943 unterschied er zwischen dem »Arbeitslager Auschwitz«, wo die Haftbedingungen möglicherweise etwas erträglicher seien, und dem KZ. 129 Nachrichten über die systematische Ermordung von Menschen mit Gas in Auschwitz oder in einem anderen Vernichtungslager brachte er allerdings nicht in Erfahrung. Allerdings hörte auch er von dem Gerücht, die Evakuierten würden während der Fahrt in Viehwaggons mit Hilfe von Gas ermordet. 130 Erst im Januar 1945 teilte ihm ein Bekannter mit, er habe im Radio gehört, in Auschwitz seien 1,5 Millionen Menschen, meist mit Hilfe von Gas, ermordet worden. 131 Am 1. Juni 1943 erhielt er Informationen über den Warschauer Ghettoaufstand. Im Oktober 1944 nannte ein Bekannter ihm gegenüber die Zahl von sechs bis sieben Millionen ermordeter Juden. 132
    Karl Dürkefälden, der bereits erwähnte Techniker aus Celle, dessen Tagebuch in den achtziger Jahren ediert wurde,

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