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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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sammelte systematisch Informationen über die Ermordung von Juden und schloss daraus, dass ein Massenmord vor sich gehe. 133 Dürkefälden kombinierte unterschiedliche Quellen: offizielle Verlautbarungen über die »Ausrottung« der Juden, Angaben des deutschsprachigen Dienstes der BBC, Informationen aus Gesprächen mit seinem in der Ukraine eingesetzten Schwager und aus Unterhaltungen mit Wehrmachtsoldaten sowie Beobachtungen über Deportationen von Juden aus seiner Heimat. Dürkefälden war sich darüber im Klaren, dass Morde in großem Umfang erfolgten und dass die Juden durch Erschießungen und Giftgas umgebracht wurden.
    Das Tagebuch zeigt, dass Dürkefälden zu diesen Schlussfolgerungen nur kommen konnte, weil er als zu den Sozialdemokraten tendierender Angestellter grundsätzlich systemkritisch eingestellt war (im Zweifelsfall vertraute er der BBC mehr als den Medien des NS-Staates) und weil er bereit war, erhebliche Anstrengungen zu unternehmen und persönliche Risiken einzugehen, indem er beispielsweise »Feindsender« abhörte, dieses Tagebuch führte und anderes mehr.
    Dürkefälden sammelte nicht nur Nachrichten über das Schicksal der Juden, sondern auch über die Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener und der Zivilbevölkerung im besetzten Osteuropa. Für ihn war eindeutig, dass sich der Vernichtungswille der Nationalsozialisten gegen diese drei Gruppen richtete; die ihm vorliegenden Informationen ermöglichten ihm jedoch nicht, die besondere Radikalität der Judenverfolgung zu erkennen.
    Die dem Widerstand angehörende Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich hielt am 2. Dezember 1942 in ihrem Tagebuch fest: »In Scharen tauchen die Juden unter. Furchtbare Gerüchte gehen um über das Schicksal der Evakuierten. Von Massenerschießungen und Hungertod, von Folterungen.« Am 4. Februar 1944 notierte sie: »Schon munkelt man von neuen Judentransporten. Im überfüllten Auschwitz und in Theresienstadt sollen sie gründlich ausgeräumt haben. ›Zweitausend Abgänge pro Woche‹, brüstete sich unlängst ein Mann vom Sicherheitsdienst, der mit uns im Vorortzug fuhr. Zweitausend Abgänge pro Woche. Das sind über hunderttausend Menschen, die jährlich in einem einzigen Lager von Staats wegen ermordet wurden. In der ersten Zeit nahm man sich noch die Mühe, dem Massenmord ein humanes Mäntelchen umzuhängen. Vor allem dann, wenn der Ermordete arische oder ausländische Angehörige hinterließ. […] ›Man lässt sie ihre eigenen Gräber schaufeln‹, raunen die Leute. ›Man nimmt ihnen die Kleider weg, die Schuhe, das Hemd. Nackt schickt man sie in den Tod.‹«
    Die unmittelbar daran anschließende Passage des Tagebuches macht deutlich, wie schwierig es für den einzelnen Zeitgenossen war, die an sich vorhandenen Informationen zu akzeptieren und die entsprechenden Schlüsse daraus zu ziehen: »So unvorstellbar ist das Grauen, dass die Phantasie sich sträubt, es als Wirklichkeit zu begreifen. Irgendein Kontakt setzt hier aus. Irgendeine Folgerung wird einfach nicht gezogen. Zwischen dem theoretischen Wissen und der Anwendung auf den Einzelfall – gerade jenen Einzelfall, um den wir sorgen, bangen, uns vor Angst verzehren – klafft eine unüberbrückbare Kluft. Es ist nicht Heinrich Mühsam, den sie in die Gaskammern schicken. Es können nicht Anna Lehmann sein, nicht Margot Rosenthal oder Peter Tarnowsky, die unter den Peitschenhieben der SS ihr Grab schaufeln müssen. Und ganz gewiss ist es nicht die kleine Evelyne, die so stolz war, in ihrem vierjährigen Leben schon einmal eine Birne gegessen zu haben. Auf sie lassen sich die entsetzlichen Gerüchte bestimmt nicht anwenden. Wir erlauben unserer Einbildungskraft nicht, sie auch nur im geringsten damit in Zusammenhang zu bringen. Könnten wir denn weiterleben, wenn wir wirklich begriffen, dass unsere Mutter, unser Bruder, unsere Freundin, unser Geliebter – fern von uns unter unfassbaren Leiden zu Tode gefoltert wurden?« 134
    Auch Ursula von Kardorff, die bereits seit Ende 1942 in ihrem Tagebuch von der »Ausrottung« der Juden schrieb und im August 1943 aus einer ihrer Ansicht nach vertrauenswürdigen Quelle von Massenerschießungen von Juden erfuhr, fiel es außerordentlich schwer, das tatsächliche Ausmaß des systematischen Massenmordes zu akzeptieren: Als sie im Dezember 1944 in einer ihr zugänglich gemachten Schweizer Zeitung einen detaillierten Bericht über die Gaskammern von Auschwitz las, konnte sie dem Bericht, obwohl er doch

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