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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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»seriös« wirke, kaum Glauben schenken: »Anscheinend werden die Juden dort systematisch vergast. Sie werden in einen riesigen Waschraum geführt, angeblich zum Baden, dann lässt man durch unsichtbare Röhren Gas einströmen. Bis alle tot sind. Die Leichen werden verbrannt. Der Artikel wirkt seriös, klang nicht nach Gräuelpropaganda. Muss ich diesem entsetzlichen Bericht glauben? Er übersteigt die schlimmsten Ahnungen. Das kann einfach nicht möglich sein. So viehisch können selbst die brutalsten Fanatiker nicht sein. Bärchen und ich waren heute Abend kaum fähig, über etwas anderes zu sprechen. Das Lager soll in einem Ort namens Auschwitz sein. Wenn es wirklich stimmt, was in der Zeitung stand, dann gibt es nur noch ein Gebet: Herr, befreie uns von den Übeltätern, die unsren Namen mit dieser Schande bedecken.« 135
    Norbert Frei hat erstmals auf die Erinnerungen einer 1943 in die Stadt Auschwitz versetzten deutschen Lehrerin aufmerksam gemacht, die, Sympathisantin des Regimes und alsbald über den Massenmord im Lager informiert, ihre Hemmungen beschreibt, diese Informationen weiterzugeben. Die Lehrerin schreibt rückblickend, es sei ihr damals »immer als eine unangezweifelte Selbstverständlichkeit« erschienen, »den Mitteilungsdrang zu beherrschen und zu schweigen, da ich nichts, aber auch gar nichts daran ändern konnte. Irgend einmal musste die Wahrheit ja herauskommen, irgendwann einmal die Missetaten gesühnt werden. Nur jetzt, während des Krieges – jetzt -, wo alles auf dem Spiel stand, wo alles davon abhing, dass die Front und die Heimtat durchhielten, durfte das Bild der Führung nicht beschmutzt, nicht der Kampfgeist geschwächt werden. Es ging ja um Deutschland! Nur jetzt nichts sagen. Nichts davon würde ich meinem Bruder, nichts den Freunden schreiben, die die schwersten Kämpfe zu bestehen hatten. [...] Ein Weitererzählen hätte damals nur noch mehr Leute unglücklich gemacht, sie in größte Gefahr gebracht. Und hier konnte leider niemand helfen. Sehr peinlich, dass schon das Ausland davon zu wissen schien.« 136
    Es muss dahingestellt bleiben, ob der nachträgliche Versuch der Lehrerin, Erklärungen für ihr damaliges Schweigen zu finden, ihre seinerzeitige Motivlage tatsächlich widerspiegelt, oder ob es sich um den Versuch einer Bewältigung von später aufgekommenen Schuldgefühlen handelt. Das Beispiel veranschaulicht jedoch, dass es eine ganze Reihe von Gründen gab, warum auch die unmittelbare Konfrontation mit der Realität des Massenmordes nicht automatisch dazu führen musste, die grauenhaften Geschehnisse zu akzeptieren und diese Information weiterzugeben. Zu groß, das verdeutlicht dieses Beispiel, waren die mentalen Widerstände: die Haltung, auch im Interesse anderer die Geheimhaltung wahren zu müssen; das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit angesichts des Grauens, dem man sich nicht immer wieder neu aussetzen wollte; die befürchtete moralische Schwächung der Position des eigenen Landes; die Furcht vor dem »Ausland«; letzten Endes aber die Weigerung, sich einzugestehen, dass die Loyalität gegenüber der Führung des eigenen Landes einem verbrecherischen Regime galt.
    Der Psychologe Michael Müller-Claudius befragte im Herbst 1942 ein zweites Mal – eine erste Befragung hatte er unmittelbar nach dem Novemberpogrom durchgeführt – systematisch 61 alte Parteimitglieder zu ihrer Einstellung zur »Judenpolitik« des Regimes. 137 Ausgangspunkt dieser verdeckten, in Form einer harmlosen Unerhaltung durchgeführten »Interviews« war stets eine ins Gespräch geworfene Bemerkung: »… und das jüdische Problem ist immer noch nicht geklärt. Man hört gar nichts davon, wie die Lösung gedacht sein mag …« Drei Gesprächspartner, so Müller-Claudius, befürworteten ausdrücklich den Gedanken eines »rassischen Vernichtungsrechtes«, sie meinten, die »jüdische Rasse« müsse aufhören zu existieren, es war von Ausrottung, Sterilisation, Auslöschung die Rede. Die große Mehrheit der Befragten, insgesamt 42 Personen, reagierte jedoch abwehrend. Müller-Claudius bewertete diese Position als »Indifferenz des Gewissens«, ging aber gleichzeitig davon aus, dass bei dieser Mehrheit der »weltanschauliche Erziehungsauftrag« der Partei gescheitert sei, da offenkundig eine aktive Unterstützung der »Judenpolitik« des Regimes nicht vorliege. Insgesamt 13 Personen sprachen von der Notwendigkeit, einen eigenen Staat für die Juden zu schaffen; eine Reihe von Personen aus dieser

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