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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Gruppe zeigte sich über die Erschießungen informiert. Müller-Claudius attestierte allen Angehörigen dieser Gruppe »Anzeichen des sich befreienden Rechtssinnes«, da beide Feststellungen – die über den jüdischen Staat und die offene Erörterung der vor sich gehenden Erschießungen – der offiziellen Politik des Regimes widersprachen. Eine vierte, kleine Gruppe, insgesamt drei Personen, lehnte demgegenüber die »Judenpolitik« des Regimes klar ab.
    Die Ergebnisse dieser Befragung sind natürlich aus unterschiedlichen methodischen Gründen angreifbar: Die Befragungen sind nicht repräsentativ, die Zuordnung zu den genannten vier Kategorien erscheint höchst subjektiv, und wir haben generell keine Möglichkeit, den Verlauf der Interviews nachzuvollziehen. Interessant sind diese Befragungen jedoch vor allem deshalb, weil sie uns einen Eindruck davon vermitteln, wie man sich eine Erörterung der »Endlösung« in privaten (aber nicht wirklich vertrauten) Gesprächssituationen im Herbst 1942 vorstellen kann: Die Mehrheit der Befragten reagierte abwehrend und lehnte offensichtlich eine Erörterung des Themas rundweg ab, eine Minderheit zeigte sich über Exekutionen informiert, aber keiner der Gesprächspartner wollte offensichtlich von der Position ausgehen, dass die »Endlösung«, der systematische Massenmord, bereits in Gang gekommen sei. Auch der Interviewer, der offenkundig eine Vorstellung von dem tatsächlichen Schicksal der Juden hatte, konnte sich nicht entschließen, sein Wissen zum Ausgangspunkt der Unterhaltung zu machen, sondern wählte eine allgemein gehaltene Eingangsfrage. »An die Verwirklichung des rassischen Vernichtungsrechtes, die mit voller Vertiertheit bereits im Gange ist, glaubt offenbar keiner der Befragten« – so lautete denn auch das wohl aufschlussreichste Resümee des Psychologen.
     
    David Bankier hat zum ersten Mal darauf hingewiesen, dass sich in den Berichten, die das britische Foreign Office während des Krieges über die innere Situation in Deutschland zusammenstellte, eine ganze Reihe Hinweise auf die Judenverfolgung finden. Gewonnen wurden diese Informationen von aus Deutschland ausgereisten Personen oder aus abgefangenen Briefen. 138
    Tatsächlich enthalten diese Berichte nur relativ wenige Angaben zur »Judenfrage« – gemessen am gesamten Berichtsmaterial, sind es vielleicht ein oder zwei Prozent. Das mag nicht nur auf die Indifferenz der befragten Personen oder der Briefeschreiber zurückzuführen sein, sondern zumindest teilweise auch auf das mangelnde Interesse der britischen Berichterstatter an der »Judenfrage«. Trotzdem wird man auf der Grundlage dieses Berichtsmaterial sagen können, dass Personen, die 1942 oder 1943 ihre Eindrücke aus Deutschland wiedergaben, in der Regel der Judenverfolgung nicht die oberste Priorität einräumten.
    Die relativ wenigen überlieferten Berichte in den britischen Akten, die das Schicksal der Juden betreffen, enthalten Informationen über Deportationen und Massenerschießungen in Osteuropa, relativ häufig Hinweise auf die Tötung von Juden mit Gas, jedoch sehr wenige konkrete Informationen über Vernichtungslager. Die meisten Reporte beruhten auf Gerüchten und Informationen, die innerhalb der deutschen Bevölkerung in Umlauf waren, einige umfassen indes auch eigene Beobachtungen der Berichterstatter, die sich zum Teil längere Zeit in Deutschland oder im besetzten Gebiet aufgehalten hatten.
    Besonders aufschlussreich ist der bereits im letzten Kapitel erwähnte Bericht des ehemaligen Sekretärs der US-Handelskammer in Frankfurt am Main, van d’Elden, der detaillierte Angaben über fünf Deportationszüge aus Frankfurt gemacht hatte, 139 die weitgehend zutrafen: Die Anzahl der Deportationen war korrekt, und zwei von vier Zielorten waren richtig benannt. 140
    Ein Bolivianer, der in der deutschen Industrie als Ingenieur arbeitete, berichtete einem britischen Informanten in Stockholm im Frühjahr 1943 über die Deportation Frankfurter Juden im Juni 1942. Die Opfer seien in Züge verladen, und einige Kilometer außerhalb der Stadt sei Gas in die Waggons geleitet worden; die Überlebenden habe man mit Maschinengewehren erschossen. 141
    Wir haben bereits gesehen, dass in Frankfurt gleichzeitig das Gerücht kursierte, es seien Insassen von zwei Zügen in der Nähe von Minsk in einem Tunnel mit Hilfe von Gas ermordet worden. Die brennende Frage nach dem Schicksal der Deportierten, daraufhin hat ebenfalls bereits David Bankier

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