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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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hingewiesen, 142 führte offensichtlich dazu, dass Informationen über Eisenbahntransporte und deren Zielorte mit Gerüchten über den Einsatz von Giftgas und Erschießungen kombiniert wurden.
    In den britischen Akten steckt noch mehr: Ein spanischer Journalist, der zwei Jahre lang Korrespondent in Berlin gewesen war, erzählte nach seiner Rückkehr nach Madrid im Frühjahr 1944, die deutsche Öffentlichkeit glaube, dass die Juden massenweise »liquidiert« würden, so wie man wilde Tiere tötet. 143 Ein in Lissabon lebender deutscher Jude informierte die britische Seite im Juni 1943 über ein Gespräch mit einem Bekannten aus dem Berliner Philharmonischen Orchester, das sich zu einem Konzert in Portugal aufhielt: »Der Informant wusste, dass Juden mit Hilfe von Gas getötet wurden, ebenso allgemein Einzelheiten hinsichtlich der Verfolgung der Juden […] Die Deportationen nach Polen und Russland sind gleichbedeutend mit der Todesstrafe.« 144
    Der ehemalige spanische Konsul in Berlin äußerte gegenüber einem britischen Informanten in Madrid im April 1943, die Deutschen hätten mit ihren kürzlichen Deportationen aus Berlin einen schwerwiegenden psychologischen Fehler begangen, da diese unmittelbar nach einem schweren Luftangriff erfolgt seien. Die ausgebombte Bevölkerung habe sich darüber aufgeregt, dass dringend benötigte Transportmittel für diesen Zweck eingesetzt worden seien, und einige hätten versucht, Lastwagen, auf denen sich Juden befanden, zu stoppen und deren Habe an sich zu reißen. Es werde allgemein angenommen, dass das Ziel der Deportationen ein Tunnel sei, in dem die verschleppten Menschen vergast würden. 145 Zwei aus dem besetzten Polen entkommene belgische Kriegsgefangene berichteten gegenüber einem britischen Informanten in Schweden, die Deutschen selbst brüsteten sich damit, dass es in Lemberg spezielle Gaskammern gebe, in denen Juden systematisch ermordet und verbrannt werden würden. Die Gesamtzahl der bisher auf diese Weise Ermordeten betrage mehr als 80 000 Menschen. 146
    Zwar waren diese Berichte im Einzelnen nicht zutreffend – in Lemberg befand sich kein Vernichtungslager, und weder wurde Gas in Eisenbahnwaggons geleitet, noch gab es einen Eisenbahntunnel, in dem Juden mit Hilfe von Gas ermordet wurden -, dennoch illustrieren sie, welche Spekulationen in der Bevölkerung über die Ermordung von Juden durch Gas im Umlauf waren.
    Zu diesen Gerüchten mag unter anderem die Tatsache beigetragen haben, dass sich die Existenz der Vernichtungslager trotz aller Geheimhaltungsanstrengungen keineswegs vollkommen verbergen ließ – nicht nur wegen der großen Zahl der mittelbar oder unmittelbar in den Vernichtungsprozess involvierten Täter, sondern weil noch erheblich mehr Menschen Gelegenheit zu Beobachtungen hatten, die die Bestimmung der Vernichtungslager offenlegten.
    Dies gilt insbesondere für das in Folge von Annexion innerhalb des Reichsgebietes liegende Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau: Das ständige Ankommen von Transporten mit Tausenden von Menschen, die weithin sichtbaren meterhohen Flammen aus den Krematorien und der charakteristische Geruch verbrannter Leichen, der sich in der Umgebung des Lagers ausbreitete, waren untrügliche Anzeichen dafür, dass hier nicht nur eine hohe Todesrate herrschte, sondern dass hier ein Massenmord ungeheuren Ausmaßes vor sich ging.
    Im Lagerkomplex Auschwitz war der in Birkenau vor sich gehende Massenmord unter den Häftlingen bekannt; durch den »Arbeitseinsatz« der Häftlinge in den dort ansässigen deutschen Firmen, aber auch durch die Überstellung von Inhaftierten in andere Lager im Reichsgebiet wurden solche Informationen über vielfältige Kanäle verbreitet. Den Arbeitern und Angestellten in den in Auschwitz ansässigen deutschen Firmen – die häufig kurzfristig beschäftigt wurden – konnten die Massenmorde ebenso wenig verborgen bleiben wie den Angehörigen der in der »Musterstadt« Auschwitz selbst sowie im übrigen annektierten Oberschlesien eingerichteten deutschen Behörden und Dienststellen, die in irgendeiner Form mit der Existenz des Vernichtungslagers konfrontiert waren. Auch der deutschen Bevölkerung in den benachbarten Städten, die von Juden »geräumt« wurden, enthüllte sich das wahre Ziel der vorgeblichen »Umsiedlung« schon wegen der räumlichen Nähe des Todeslagers, in dem die Deportationen endeten. 147 Und allein die Tatsache, dass alle Vernichtungslager direkt an Bahnstrecken lagen, musste einen Teil

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