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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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des Eisenbahnpersonals zu Mitwissern machen und die Aufmerksamkeit zahlreicher Reisender hervorrufen. 148
    Gerüchte über die »Endlösung« konnten auch auf die sehr gut vernetzten Angehörigen bestimmter Schlüsselgruppen in den Berliner Ministerien zurückgehen. So bestätigte Goebbels – darauf wird noch näher einzugehen sein – vor einem Kreis von etwa fünfzig führenden Propagandisten im Dezember 1942 offen den Massenmord an den Juden, und Walter Laqueur hat überzeugend argumentiert, dass zahlreiche Angehörige des Auswärtigen Amtes nicht nur die Berichte der Einsatzgruppen gelesen hatten, sondern immer wieder, etwa durch Rückfragen fremder und eigener diplomatischer Vertretungen, mit Einzelheiten der Auswirkungen des Massenmordes befasst waren. 149 Hinzu kamen die Beamten, die die Wannseekonferenz besuchten und ihre Dienststellen darüber intern unterrichteten.
    Angesichts dieser großen Zahl potenzieller Quellen über den Vernichtungsprozess muss es eigentlich erstaunen, dass die heute noch feststellbaren Gerüchte über die Verwendung von Gas und insbesondere über die Existenz von Vernichtungslagern so vage beziehungsweise so rar sind. Es hat den Anschein, dass unmittelbare Wahrnehmungen über den Mordprozess in den Vernichtungslagern nur selten ungefiltert weitergegeben wurden.
    Zur Beantwortung der Frage nach dem seinerzeitigen Wissen des Einzelnen über die »Endlösung« hat schließlich auch die deutsche Nachkriegs-Demoskopie Material geliefert. Postfaktum-Befragungen zum damaligen Wissensstand über den Mord an den Juden sind methodisch natürlich problematisch: Jahrzehnte nach den Ereignissen abgegebene Stellungnahmen darüber, was man damals wusste, können in verschiedenster Weise verzerrt sein; Erinnerungslücken, Verdrängungsmechanismen, mangelnde Aufrichtigkeit, aber auch Rückprojektionen später erworbenen Wissens in die Vergangenheit und anderes mehr mögen dabei eine Rolle spielen.
    Interessant ist jedoch, dass diverse Nachkriegsumfragen unter der deutschen Bevölkerung darüber, wann man erste Informationen über den Massenmord an den Juden erhalten hatte, recht konsistente Ergebnisse lieferten: Danach gaben in diversen Umfragen, die zwischen 1961 und 1998 durchgeführt wurden, zwischen 32 und 40 Prozent der Bevölkerung an, sie hätten solche Informationen vor Ende des Zweiten Weltkrieges besessen. 150
    Selbst wenn man unterstellt, dass alle Befragten wirklich ein authentisches Bild ihres damaligen Wissens zeichneten – was man, wie gesagt, ausschließen kann -, so sind diese Umfrageergebnisse auch deswegen problematisch, weil sie nichts darüber aussagen, ob die Befragten die Informationen auch geglaubt oder als Gerüchte verworfen haben. Außerdem gingen diese Umfragen nicht präzise genug der Frage nach, welche konkreten Informationen über den Holocaust denn damals bekannt waren, obwohl, wie wir wissen, die Kenntnisse etwa in Bezug auf Massenerschießungen und Gaskammern stark variierten.
    Selbst mit diesen Einschränkungen vermittelt das Material aber immerhin eine Vorstellung von der Größenordnung des Bevölkerungsanteils, der seinerzeit in irgendeiner Form vom Holocaust wusste: nicht die Mehrheit, aber doch ein erheblicher Anteil der Bevölkerung und nicht etwa nur eine kleine, auf eine bestimmte Region, Berufssparte oder auf ein soziales Milieu beschränkte Minderheit. Es bestätigt sich damit, was wir auch den Stimmungsberichten, Tagebüchern und anderen zeitgenössischen Aufzeichnungen entnehmen können: In der deutschen Bevölkerung waren generelle Informationen über den Massenmord an den Juden weit verbreitet.

Die alliierte Propaganda als Informationsquelle
    Wiederum David Bankier hat bereits darauf hingewiesen, dass Gerüchte und Informationen über Massenmorde sich nicht nur auf Berichte von Soldaten stützten konnten, die aus dem Osten heimkehrten, sondern dass womöglich auch die alliierte Propaganda ihren Anteil daran hatte. 151 Man kann davon ausgehen, dass rund die Hälfte der deutschen Bevölkerung zumindestens gelegentlich die deutschsprachigen Programme der BBC hörte. 152
    Alliierte Rundfunkstationen – die BBC in ihren europäischen Programmen – brachten bereits im Laufe des Jahres 1942 wiederholt Meldungen über den systematischen Mord an den Juden. 153 Thomas Mann beispielsweise sprach in seinen an deutsche Hörer gerichteten Sendungen schon 1942 mehrfach die Ermordung von Juden mit Hilfe von Gas an, etwa am 27. September 1942, als er den Einsatz

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