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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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    Ein brasilianischer Diplomat, der frühere Charge d’Affaire an der Botschaft seines Landes in Vichy, der nach dem brasilianischen Kriegseintritt von Februar 1943 bis März 1944 in Bad Godesberg interniert worden war, berichtete bei seiner Durchreise durch Lissabon einem britischen Informanten, die Masse der Deutschen habe die Behandlung der Juden nie befürwortet. Der Diplomat ging im Übrigen davon aus, dass die meisten der nach Polen deportierten Juden dort ermordet würden. 192 Ein mit einer Deutschen verheirateter Diplomat aus Guatemala, der von seinem Posten in Berlin über Lissabon in sein Heimatland ausreiste, erklärte, in Deutschland herrschten zwar starke antisemitische Aversionen, aber was das Regime den Juden angetan habe, werde von nahezu jedem als übertrieben beurteilt. 193
    Kate Cohn, die sich bis zu ihrer Flucht im Februar 1942 im Reichsgebiet aufhielt, berichtete, nachdem sie nach Großbritannien gelangt war, die Einstellung der nichtjüdischen Bevölkerung gegenüber den Juden sei manchmal feindselig, meistens jedoch neutral und reserviert. Gelegentlich sei es vorgekommen, dass jüdische Familien vor ihren Wohnungstüren Lebensmittel vorgefunden hätten; sie seien dort von Nichtjuden abgelegt worden, die sich bei solchen Sympathiekundgebungen vor Denunziationen relativ sicher fühlen konnten. In vielen Wohnhäusern gebe es jedoch nach wie vor gute Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, und eine Gruppe von deutschen Arbeiterinnen versorge eine größere Gruppe von jüdischen Kollegen täglich mit Nachrichten aus dem britischen Rundfunk. 194 Ein 1938 aus Österreich emigrierter Rechtsanwalt, der 1944 nach Wien gereist war, wusste anschließend zu erzählen, dass die Wiener, die anfänglich hinter den antisemitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten gestanden hätten, nun, nachdem sie von der Vernichtung der Juden wüssten, den Juden Sympathien entgegenbrächten. 195
    Ähnliche Eindrücke über die Einstellung der deutschen Bevölkerung zur noch in Deutschland verbliebenen jüdischen Minderheit lassen sich auch aus deutschen Quellen gewinnen. Dazu nur zwei Beispiele: Das Sondergericht Würzburg verurteilte im Mai 1943 die Ehefrau eines Lokomotivführers zu sechs Monaten Gefängnis. Die Frau war beim Anblick einer Gruppe von Juden, die auf dem Güterbahnhof Eisenbahnwaggons bestiegen, in Tränen ausgebrochen und hatte zu einer Kollegin, die ihr falsches Mitleid vorwarf, gesagt: »Wer da kein Herz im Leibe hat, der ist keine deutsche Frau.« 196 Anna Haag hingegen schildert in ihrem »Kriegstagebuch« am 5. Oktober 1942, dass sie sich, weil sie für eine mit dem Stern gekennzeichnete ältere Dame in einer Straßenbahn ihren Sitzplatz aufgeben wollte, den kollektiven Zorn der Fahrgäste zugezogen habe. 197
    Versuche, aus solchen Einzelbeobachtungen allgemeine Einschätzungen über die Haltung der deutschen Bevölkerung zu den Juden abzuleiten, finden sich auch in Tagebüchern. So erwähnt etwa die Journalistin Ursula von Kardorff in ihrem Tagebuch Anfang 1943 »… die Ausrottung der Juden, wogegen die große Masse allerdings gleichgültig oder auch zustimmend ist«. 198
    Vermutlich am umfassendsten und gründlichsten bemühte sich Victor Klemperer, solche Verhaltensweisen einzuschätzen und zu analysieren. Klemperer verzeichnet Sympathiegesten, offene regimekritische Äußerungen und Zuspruch, zum Teil von Mitgliedern der Partei und von Amtspersonen. Mehrfach kommen Bekannte, aber auch ihm völlig unbekannte Personen in der Öffentlichkeit demonstrativ auf ihn zu. 199 Aber er wird auch wiederholt angepöbelt, insbesondere von Schulkindern, er wird in verschiedenen Situationen durch »normale« Bürger demütigend behandelt und muss sich antisemitische Bemerkungen anhören. 200
    Klemperer versucht, diese widersprüchlichen Beobachtungen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. So registriert er, als er mit einer Gruppe anderer Sternträger zu Schneeräumarbeiten eingeteilt wird, seitens der Passanten erheblich mehr aufmunternden Zuspruch als beleidigende Äußerungen. Auch die nichtjüdischen Arbeitskollegen in einer Firma, in der er später zur Zwangsarbeit verpflichtet wird, verhalten sich ihm gegenüber überwiegend freundlich. 201
    Die Lektüre des Tagebuches macht Klemperers Schwierigkeiten deutlich, die »wahre« Volksstimmung, die vox populi , zu erfassen: Wie tief, so die von ihm immer wieder gestellte Frage, steckt der Antisemitismus in der Bevölkerung, inwieweit war das Verhalten der

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